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Lim, Liza

Liza Lim (*30.8.1966 Perth/Australien) ist eine Komponistin, Pädagogin und Forscherin, deren Musik sich auf kollaborative und transkulturelle Praktiken konzentriert. Die Wurzeln der Schönheit (im Geräusch), Zeiteffekte im Anthropozän und die Sensorik ökologischer Zusammenhänge sind ständige Themen ihrer kompositorischen Arbeit.

Ihre vier Opern: The Oresteia (1993), Moon Spirit Feasting (2000), The Navigator (2007) und Tree of Codes (2016), sowie das große Ensemblewerk Extinction Events and Dawn Chorus (2018) erforschen Themen wie Begehren, Erinnerung, rituelle Transformation und das Unheimliche. Ihre genreübergreifende Percussion-Ritual/Oper Atlas of the Sky (2018) ist ein Werk, das die emotionale Kraft und Energiedynamik von Menschenmengen untersucht.

Liza Lim erhielt Kompositionsaufträge von einigen der bedeutendsten Orchester und Ensembles der Welt, darunter das Los Angeles Philharmonic, das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks, die Symphonieorchester der BBC, des SWR und des WDR, das Ensemble Musikfabrik, ELISION, das Ensemble Intercontemporain, das Ensemble Modern, das Klangforum Wien, das International Contemporary Ensemble, das Arditti String Quartet und das JACK Quartet. In den Jahren 2005 und 2006 war sie Resident Composer beim Sydney Symphony Orchestra. Ihre Musik wurde auf dem Spoleto Festival, dem Miller Theatre New York, dem Festival d'Automne à Paris, der Biennale von Venedig, dem Lucerne Festival und auf allen großen australischen Festivals aufgeführt.

Ihr dreiteiliges großes Orchesterwerk Annunciation Triptych, das 2022 unter der Leitung von Cristian Mâcelaru erstmals in einem Konzert des WDR Sinfonieorchester in der Kölner Philharmonie vollständig erklingt, schlägt einen weiten Bogen von der griechischen Dichterin Sappho über die jungfräuliche Gottesmutter Maria bis zu Fatima, der Tochter des Religionsstifters Mohammed. Lim versteht die Geschichten der drei Frauen als Kommentare zu ökologischen, spirituellen und transkulturellen Themen unserer Zeit. Die Beziehungen unterschiedlicher Kulturen sind für Liza Lim, die als Tochter chinesischer Eltern in Australien aufwuchs und zeitweise in Europa lehrte, ein Lebensthema.

Lim ist Professorin für Komposition und Inhaberin des ersten Sculthorpe-Lehrstuhls für australische Musik am Sydney Conservatorium of Music, wo sie das Programm "Composing Women" leitet.

Zu den Auszeichnungen für ihre Arbeit gehören der Don Banks Award for Music (2018), die Peggy Glanville Hicks Residency (1995), der Paul Lowin Prize for Orchestral Composition (2004), der Fromm Foundation Award (2004) und der DAAD Artist-in-residence Berlin (2007-08). Sie wurde mit dem Happy New Ears Preis 2021 der Hans und Gertrud Zender Stiftung ausgezeichnet und ist Fellow des Wissenschaftskolllegs zu Berlin 2021-22.

Ihre Musik ist bei Ricordi und auf CD-Labels wie Kairos, Hat Art, WERGO, HCR und Winter & Winter erschienen.

lizalimcomposer.com

Photo: Harald Hoffmann


Porträt

Liza Lim ist ein Kind der Globalisierung: Sie wurde 1966 als Kind chinesischer Eltern geboren, studierte in Brunei und Australien und gilt heute in Europa und Australien als eine der führenden Komponistinnen ihrer Generation. Ihr multikultureller Hintergrund ermöglicht es ihr, sich von althergebrachten Traditionen zu lösen. In ihrer Musik treffen unterschiedlichste Einflüsse aufeinander – von moderner Architekturtheorie bis hin zu den Wissenssystemen der australischen Aborigines.

Schon Lims erste Oper The Oresteia (1991-1993), die sie im Alter von nur 27 Jahren vollendete, zeugt von dem ihr eigenen musikalischen Stil. Texte und Geschichten des Altertums aus China, Tibet oder Persien bilden wie hier häufig die Grundlage ihrer Kompositionen. Zudem ist The Oresteia ein frühes Beispiel für den Gemeinschaftsgeist, der Lims Musik prägt: Den Text von Aischylos bearbeitete sie zusammen mit dem Regisseur Barrie Kosky; die Musik wurde speziell für das ELISION Ensemble geschrieben, Australiens führendes Ensemble für Neue Musik, mit dem Lim seit den 1980er Jahren enge musikalische und persönliche Verbindungen pflegt.

Zu dieser Zeit entwickelt sich auch Liza Lims Interesse an musikalischen Traditionen jenseits des westlichen Orchesters. Koto (1993) und Burning House (1995) beziehen sich beispielsweise auf Japan – die Partitur des letzteren Werks schrieb Lim sogar in traditioneller japanischer Notation. Lims Beschäftigung mit der asiatischen Musik führt in der „Straßenoper“ Yuè Lìng Jié (1997-99) auch zu einer Auseinandersetzung mit ihrer eigenen Identität als chinesischer Einwanderin. In späteren Werken wie ihrer dritten Oper The Navigator (2008) verwendet sie dagegen vorklassische westliche Instrumente wie die Barockharfe oder die Viola d’Amore. Dabei setzt Lim Instrumente jedoch nie als exotisches Kolorit ein. Vielmehr studiert sie die Aufführungspraxis und Geschichte dieser Instrumente bis ins Detail und benutzt architektonische oder biologische Metaphern, um deren Sprache mit ihrer eigenen zu verschmelzen. 

Auf den ersten Blick mögen Lims Interessen eklektisch erscheinen, doch einige ihrer Themen kehren immer wieder: die schamanische Besessenheit, das Verschwimmen der Grenzen zwischen Mensch und Tier, dem Weltlichen und dem Überirdischen, der Gegenwart und der Ewigkeit. In ihrer Musik werden Ritual und Ekstase auf spannungsvolle Weise miteinander kombiniert – zwei Begriffe, die oft verwendet werden, um Lims Werke zu beschreiben, und die sich in ihrer Musik durch eine Mischung aus disziplinierter Strenge und Hemmungslosigkeit ausdrücken. Indem sie sich der vollen Bandbreite an Techniken bedient, die einem Komponisten des frühen 21. Jahrhunderts zur Verfügung stehen, verwandelt Lim ihre Musiker in Vermittler und Botschafter dieser wilden Kräfte. In The Navigator verwenden die Sänger beispielsweise schrille Pfeifen, um zwischen tierischen oder insektenartigen Stimmen hin- und herwechseln zu können. In dem Werk Bardo’i-thos-grol (1994-1995), einer sieben Tage andauernden Installation, die sie mit dem Künstler Domenico de Clario realisierte, versinken Instrumentalisten in eine langandauernde, meditative Vereinigung mit ihren Instrumenten. Der Schamanismus macht es Lim möglich, die verschiedenen Aspekte ihrer eigenen kulturellen Herkunft aus China, Australien und Europa – all den Orten, an denen man altertümliche Geschichten tierisch-menschlicher Verwandlung finden kann – miteinander zu verbinden. 

Ein Werk, in dem diese verschiedenen Einflüsse zusammenkommen, ist The Quickening (2005). Es ist eines der ersten Stücke, die Liza Lim als Mutter schrieb. Der Titel verweist auf eine werdende Mutter, die zum ersten Mal spürt, wie sich das Baby in ihr bewegt. Obgleich die Mutterschaft hier das zentrale Thema ist, ist das Werk ein für Liza Lim charakteristischer Ideen-Komplex. Typisch für Liza Lim ist die Verknüpfung von Sopranstimme und asiatischem Instrument, in diesem Fall das Guqin, ein in der chinesischen Kultur bedeutendes Instrument. Im Text des Dichters Yang Lian liest man von „Zikaden im Körper“ und einer „Zeremonie der Geburt“. Lim bezieht sich im Vorwort der Partitur aber auch auf die schamanischen Praktiken der Heiler der Aborigines, die „ekstatische Wüsten-Kunst des ursprünglichen Australiens“ und die kinästhetische Aufführungspraxis des Guqin.

 In noch größerem Maße verschmelzen unterschiedliche kulturelle Einflüsse in The Navigator (2007-08). Das Libretto wurde von der australischen Dichterin Patricia Sykes geschrieben, mit der Lim schon an Mother Tongue für Sopran und Ensemble (2005) gearbeitet hatte. Zudem arbeitete sie bei The Naviagor erneut mit Barrie Kosky zusammen. Und wieder wurde die Musik speziell für die Musiker des ELISION Ensembles komponiert; einige von ihnen bekamen zudem neue Solo- und Ensemble-Stücke auf den Leib geschrieben (Wild Winged-One für Trompete, Weaver of Fictions für Alt Ganassi-Flöte und Sensorium für Countertenor, Barockharfe, Viola d’Amore und Cembalo). In The Navigator ist außerdem ein völlig neues musikalisches Element zu hören: Richard Wagner. Lim sagt, dass sie sich „wieder in die Musik verliebte“, als sie das Tristan-Vorspiel im Jahr 2004 hörte.

Seit The Navigator baut Lim die Zusammenarbeit mit anderen Künstlern stetig aus. So erarbeitet sie z.B. mit Mitgliedern der musikFabrik Solowerke wie Axis Mundi (2012-13) für Fagott und The Green Lion Eats the Sun (2014) für Doppelglocken-Euphonium. Für die Komposition Tongue of the Invisible (2010-11), basierend auf Texten des Sufi-Dichters Hafez, entwickelte sie Improvisationssysteme in enger Zusammenarbeit mit den Musikern.

Das Verhältnis von Mensch und Musik umfasst drei Ebenen: die physische Beziehung zwischen dem Musiker und seinem Instrument, die Verbundenheit von verschiedenen Musikern in einem Ensemble (sowie zwischen dem Komponisten und diesen Musikern) und die Beziehung zwischen der Musik und außenstehenden Gruppen von Menschen, also beispielsweise dem Publikum. Liza Lim knüpft eine Verbindung zwischen diesen drei Ebenen. Ihre Musik ist zutiefst humanistisch. Die Bewegungen eines Fingers auf einer Seite oder der Lippen auf einem Mundstück lassen den Hörer von Liza Lims Musik über ganze kulturelle Systeme und das Leben an sich reflektieren.

Tim Rutherford-Johnson, 2015