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Komponisten über Komponisten

Komponisten über Komponisten

Auf unserem Blog stellen unsere Komponisten regelmäßig ihre Lieblingswerke aus unserem Katalog vor. Dieses Mal: Steffen Wick schreibt über Heiner Goebbels.

„Heiner Goebbels 2002 uraufgeführte Oper Landschaft mit entfernten Verwandten ist für mich heute aktueller denn je. 

In Zeiten von EU-Krise, Flüchtlingsströmen, unberechenbarer U.S.-Politik und Pegida führt die fortschreitende Globalisierung zu einem menschlichen Zusammenrücken, trotz aller Unterschiede in Bezug auf Historie, Traditionen und Überzeugungen. Die Frage nach dem Umgang mit dieser Pluralität stellt Heiner Goebbels uns: Wie entfernt oder nahe sind uns diese Verwandten?

Die Vielschichtigkeit menschlicher Erfahrung macht Heiner Goebbels auf der Theaterbühne durch eine große Sprach- und Sujetvielfalt des Textes erlebbar, durch Parallelität verschiedener szenischer Handlungsabläufe und durch eine Musiksprache, die sich nicht scheut, Weltmusik-Elemente ebenso wie Rockgesten und durchlaufende Pattern kunstvoll miteinander zu verbinden und sich so gleichsam in verschiedenen Sprachen artikuliert. Die Themen reichen von Kunstbetrachtung bei Leonardo da Vinci bis hin zu Kriegsreflektionen bei Gertrude Stein. Tiefsinniges wechselt sich ab mit Profanem. Diese Schichtung führt zu einer Komplexität, die für mich meinem eigenen Erleben und Wahrnehmen in der Welt sehr nahe kommt. 

Im wirklichen Leben läuft selten alles geordnet und eines nach dem anderen ab. Vor allem durch das Internet ist der Zustand, sich parallel unterschiedlichste Sachverhalte anzueignen, zu unserer Realität geworden. Für den richtigen Umgang mit dieser Perspektivenvielfalt müssen wir uns neuen Herausforderungen stellen.

Theater wird hier zur existentiellen Erfahrung, da ich nicht zuschaue, was vor mir auf der Guckkasten-Bühne aufgeführt wird. Stattdessen werde ich selbst Teil dieser Realität und knüpfe Assoziationen zu meinem Leben und Umfeld. Dieses Erlebnis von Wahrhaftigkeit in der Oper habe ich äußerst selten, und so ist für mich Heiner Goebbels‘ Landschaft unglaublich mitreißend und umwerfend.

Ebenfalls begeistert mich die musikalische Unverkrampftheit, mit der Heiner Goebbels zu Werke geht und wie ich sie selten bei einem deutschen Komponisten erlebt habe. So bewirkt die Einbindung von Hindu-Gesängen oder U.S.-amerikanischer Country-Musik ein Kollidieren verschiedener Musikstile aus unterschiedlichen Kulturräumen und stellt uns die Frage, wie wir mit dieser Gleichzeitigkeit umgehen wollen. Die kompositorische Pluralität bleibt aber nicht bloßes Nebeneinander, sondern wird zu einem übergeordneten, geschlossenen musikalischen Ausdruck geformt. 

Dies gelingt meiner Meinung nach deswegen, weil die Musik sich immer zwingend aus der dramatischen Theatersituation heraus entwickelt. Sie ist Teil der komplexen und vielschichtigen Story und ergibt sich organisch aus dieser. Es wird keine kompositorische Ästhetik übergestülpt, sondern sie ist ein Mittel, genauso wie auch Szenerie, Schauspielerführung, Libretto etc., um ein umfassendes Wahrnehmungspotential zu entfalten. Und wir werden aufgefordert, darauf zu reagieren.“

Steffen Wick


Landschaft mit entfernten Verwandten • [2002]
Oper für Ensemble, Chor und Solisten
Text: Texte und Motive von Giordano Bruno, Arthur Chapman/Estelle Philleo, T.S. Eliot, Francois Fénelon, Michel Foucault, Katharina Fritsch, Claude Lorrain, Henri Michaux, Nicolas Poussin, Max Reger, Gertrude Stein, Diego Velázquez, Leonardo da Vinci, Sisley Xshafa
Chor: SATB (4. 4. 4. 4.) / 1 (Bfl, chines. Fl). 1 (Musette). 1. Bkl. 1. / 2 (1. auch Zink, Ps; 2. auch Picctr, Flghr). 1. 1. 0. / 2 Schlzg. Cem (Clavichord, Sam, Klav, Hf). Sam (Akk, Klav). / 1. 1. 1. 2 (1. auch Blfl, 2. auch Tablecello). 1 (E-Bass)
Material auf Anfrage. Frankfurter Fassung 2010 (ohne Chor, Dauer: 85 min.) auf Anfrage.
Uraufführung: Genf, 16.10.2002
Dauer: 0’
Sy. 3562 // Partitur / Sti. / Tontr.


Komponistenprofil: Heiner Goebbels

Komponistenprofil: Steffen Wick