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Interview: Teodor Currentzis

Interview: Teodor Currentzis

„Rituale und Spiritualität sind die Dinge, nach denen ich in der zeitgenössischen Musik suche.“

Am 18. Februar 2017 dirigierte Teodor Currentzis in Perm die russische Erstaufführung von Sergej Newskis Violinkonzert Cloud Ground mit Elena Revich als Solistin.

Was fasziniert Sie an Sergej Newskis Violinkonzert Cloud Ground oder seinen anderen Kompositionen?


TC: Ich sehe Newskis Werk als ein facettenreiches Projekt der Klangrecherche. Er versucht, die Wurzel des Klanges zu finden, ausgehend von einem Verständnis musikalischer Linien eines klassischen Systems, das er mit sicherer Formgestaltung völlig neu auslegt.

Inwiefern unterscheidet sich bei Ihnen die Probenarbeit bei einem klassischen im Vergleich zu einem zeitgenössischen Werk?

TC: Es gibt keinen Unterschied. Eigentlich ist es wie mit Kleidung: es gibt keinen Unterschied, ob du ein neues oder ein altes Kleidungsstück trägst. Es sieht zwar anders aus, aber die vornehmliche Funktion ist dieselbe.

Es wirkt, als hätten Sie sich früher mehr mit zeitgenössischer Musik beschäftigt und als würden Sie sich aktuell verstärkt den Klassikern widmen. Was ist passiert?

TC: Zuerst einmal stimmt das so wohl nicht. Unser Theater ist das einzige in Russland, das jährlich Kompositionsaufträge für neue Opern und Werke vergibt  – insgesamt weitaus mehr als alle anderen Häuser zusammen. Zeitgenössische Musik bedeutet für mich… einen Auftrag, ein neues Stück zu gestalten. Ich bin wirklich davon überzeugt, dass es von großer Bedeutung ist, Komponisten mit einem Kompositionsauftrag die Möglichkeit zu geben, neue Musik zu schreiben. Ich denke aber, dass zeitgenössische Musik nicht von der akademischen klassischen Musik getrennt werden darf. Ich versuche also, ein zeitgenössisches Werk mit einem klassischen zu kombinieren, so dass Liebhaber der Klassik die Möglichkeit haben, die Musik unserer Zeit zu verstehen.

Das Labor, das ich hier in Perm habe, lehrt den Menschen neue Wege des Zuhörens; ich bin also nicht davon überzeugt, dass es ein Publikum gibt, das ausschließlich zeitgenössische Musik hört und es Orchester oder Ensembles braucht, die nur für dieses bestimmte Publikum spielen. Zeitgenössische Musik ist für Jeden. Das bedeutet, unsere Herzen und unseren Geist zu öffnen und diese Musik jedem zu bringen. Manchmal hinterlässt zeitgenössische Musik einen größeren Eindruck auf eine Person, die noch keine Gelegenheit hatte, sich mit zeitgenössischer Musik auseinanderzusetzen als auf jemanden, der an sie gewöhnt ist. Daher spiele ich nicht ausschließlich zeitgenössische Musik, sie macht vielleicht 20% meiner Aktivitäten aus. Sie ist aber sehr wichtig, da ich neue Schöpfungen wie die von Sergej Newski initiiere.

Welche russischen Komponisten des 20. und 21. Jahrhunderts sind für Sie die interessantesten und warum?

TC: Leonid Desiatnikov, Sergej Newski, Alexey Syumak, Dmitri Kourliandsky, Darin Sysoev, Boris Filanovsky und viele andere. Ich denke aber, dass es sehr wichtig ist, zu ritueller Kunst zurückzufinden. Musik ist eine rituelle Kunst, keine intellektuelle. Komponisten brauchen entweder eine sehr starke Identität oder ein sehr großes Talent um einen neuen Wegeinzuschlagen, weil wir in Zeiten leben, in denen die Menschen immer weniger die Möglichkeit haben, ein rituelles Leben zu führen. Rituale und Spiritualität sind also die Dinge, nach denen ich in der zeitgenössischen Musik suche. 


Sergej Newski: Cloud Ground • [2015]
für Violine und Orchester
Solo: vl - 2.2.2.2 - 4.2.3.1 - 3perc.pf.hp - 10.10.8.6.5
Uraufführung: 7.2.2016
Dauer: 18’
SY 4403

Sergej Newski: Zum Komponistenprofil

Photo: Olya Runyova