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Interview: Nuria Schoenberg Nono über Luigi Nonos letzte Orchesterwerke

Interview: Nuria Schoenberg Nono über Luigi Nonos letzte Orchesterwerke

Nuria Schoenberg Nono über die beiden letzten Orchesterwerke von Luigi Nono: A Carlo Scarpa, architetto, ai suoi infiniti possibili und No hay caminos, hay que caminar... Andrej Tarkowskij.

LUIGI NONO: A Carlo Scarpa (1985)


Wer war Carlo Scarpa?
Carlo Scarpa war ein bedeutender Architekt und wundervoller Mensch, der genau wie Luigi Nono aus Venedig kam und den Großteil seines Lebens hier verbracht hat. Er hat an der Universität von Venedig Architektur unterrichtet und hatte schon ganz früh, in den Nachkriegsjahren, Kontakt zu Frank Lloyd Wright und anderen großen Architekten. Später ist Carlo Scarpa dann nach Japan gezogen, wo er auch gestorben ist.

Wie war das Verhältnis von Luigi Nono zu Carlo Scarpa?
Die Freundschaft zwischen meinem Mann und ihm war sehr eng. Mein Mann und ich gingen oft zu ihm, weil man bei ihm immer interessante Leute treffen konnte. Auch ganz spät abends konnte man ihn besuchen, seine Frau kochte noch um Mitternacht Pasta für alle. Carlo Scarpa war sehr gebildet, er hatte eine riesige Bibliothek. Ich erinnere mich, wie wir einmal nachts auf dem Markusplatz standen und er uns spontan zu jedem einzelnen Gebäude dessen Geschichte erzählen konnte.

Was zeichnete ihn als Architekten aus?
Er hat zum Beispiel die Innenarchitektur vieler Museen gestaltet und dabei Tradition und Moderne miteinander verbunden. Es ist ganz fantastisch, wie er das gemacht hat. Eines seiner bekanntesten Werke ist der Olivetti-Showroom am Markusplatz, der gerade wieder restauriert worden ist. Seine Architektur ist sehr detailversessen. Jede Kleinigkeit hat er festgelegt, ein Stück Holz musste aus einem ganz bestimmten Holz sein, eine Schraube musste aus einem ganz bestimmten Metall gemacht worden sein.

Findet man diese Detailversessenheit auch in Nonos Orchesterstück?
Sicherlich. Es war bestimmt kein Zufall, dass Gigi hier mit nur zwei Tönen gearbeitet hat. Und diese Töne sind übrigens c und es – die Initialen von Carlo Scarpa.

Welche weiteren Referenzen gibt es?
Luigi Nono wollte hier Carlo Scarpa in all seinen Facetten porträtieren. Das Werk hat 72 Takte, dies entspricht den Lebensjahren von Carlo Scarpa, der 72 Jahre alt geworden ist.

Carlo Scarpa

Inwiefern zeigt sich in dem Werk ein Bezug zu Venedig?

Luigi Nono hat sehr an Venedig gehangen. Die Farben, die Klänge des Wassers, die Steine, die Glocken von Venedig - wenn man einmal diesen Bezug kennt, dann hört man es. In .... sofferte onde serene ... ist es ganz klar. Dort hört man die Glocken ganz unmittelbar, und die Bewegung sind die Wellen. Stefan Litwin hat einmal meinen Mann gefragt, wie er das Werk spielen soll. Und Gigi hat mit der Hand eine Wellenbewegung gezeigt. Die Klänge von Venedig sind überall in Luigi Nonos Werken zu finden, gerade auch in A Carlo Scarpa, wo Glocken sehr wichtig sind.

Bei Aufführungen des Werks werden die Musiker im Raum verteilt. Gibt es auch hier eine Verbindung zu Venedig?
Ja. Im Markusdom wurde schon im 16. Jahrhundert Raummusik aufgeführt. Gabrieli und andere Komponisten haben die Chöre im Raum verteilt.

A Carlo Scarpa war das erste Werk seit vielen Jahren, in dem Nono keine Elektronik verwendet hat. Was waren die Gründe dafür?
Vermutlich glaubte er, er könne mit einem „reinen“ Orchesterstück das besser ausdrücken, was er ausdrücken wollte. Vielleicht wollte er auch einfach anders arbeiten als zuvor.

Die Wirkung der Elektronik wird hier durch andere Mittel erzeugt: durch Mikrointervalle und Raumklang.
Das ist richtig. Die räumliche Komponente hat es übrigens bei ihm immer gegeben. Schon in seinen ersten Orchesterwerken hat er das Orchester geteilt.


LUIGI NONO: No hay caminos, hay que caminar... Andrej Tarkowskij



Auch Luigi Nonos letztes Orchesterwerk enthält eine Widmung im Titel: No hay caminos, hay que caminar... Andrej Tarkowskij. Welches Verhältnis hatte er zu dem Regisseur?
Der Lieblingsfilm von Luigi Nono war Tarkowskis Andrej Rubljow. Ich erinnere mich daran, wie wir den Film zusammen gesehen haben. Er war ganz wichtig für ihn, Gigi hat immer davon gesprochen. Die Filme, die Tarkowski später hier in Italien gemacht hat, haben ihm aber dann überhaupt nicht mehr gefallen. Erst für Tarkowskis letzten Film Offret (Opfer) konnte sich Gigi wieder begeistern. Die beiden haben sich übrigens nie kennengelernt.

Inwiefern hat Luigi Nono den Stil Tarkowskis hier aufgegriffen?
Luigi Nono wollte mit diesem Werk seine Bewunderung für Tarkowski ausdrücken. Die räumliche Kompositionsweise in diesem Orchesterstück hat sicherlich auch etwas mit dessen Filmen zu tun.

In beiden Werken werden Mikrointervalle verwendet. Davor schrecken manche Orchester zurück…
Wenn man in einem Theater heute eine Oper aus dem 19. Jahrhundert hört, hört man leider auch viele Vierteltöne. Manchmal weiß man wirklich nicht, welchen Ton die Sänger dort gerade singen. Wenn ich höre, wie falsch die Sänger singen, dann stört mich das. Aber hier, bei Nonos Orchesterwerken, ist es anders. Denn die Mikrointervalle werden bewusst eingesetzt. Nono hat es so geschrieben, dass es gut klingt. Ich denke, viele Musiker haben sich inzwischen an Mikrointervalle gewöhnt. Und solche Bedenken haben sich bei vergangenen Aufführungen im Nachhinein eigentlich immer zerschlagen.

Wie kam es zu dem ungewöhnlichen Titel No hay caminos, hay que caminar.... Andrej Tarkowskij?
Gigi war in Spanien und hat in Toledo auf der Mauer eines Klosters diese Inschrift gesehen: „Wanderer, es gibt keinen Weg, es gibt nur das Gehen“. Er hat das gleich in sein Notizheft notiert.

Es handelt sich um einen Vers aus einem Gedicht von Antonio Machado.
… der auf der Klostermauer falsch zitiert ist. Es gibt übrigens Leute, die behaupten, dass Gigi den Vers einem Gedichtband entnommen habe. Aber das ist nicht wahr. Er hat die Inschrift wirklich dort gesehen und ich glaube, er wusste nicht, dass es sich um einen Vers von Machado handelt.



Wie ist der Zusammenhang zwischen diesem Orchesterwerk und Prometeo?
Die Idee, dass es keinen festen Weg gibt, war für ihn sehr wichtig. Luigi Nono war gegen jede Art von Dogmen. Man muss seinen eigenen Weg gehen - dafür ist er immer eingetreten.

Sein Streichquartett Fragmente – Stille, An Diotima wird häufig als Wende beschrieben. Stimmen Sie dem zu?
Er ist einfach nicht stehengeblieben, sondern hat sich weiterentwickelt. Es gibt Komponisten, die mit einem Werk einen großen Erfolg haben und dieses Werk dann immer wieder ihr ganzes Leben schreiben. In jedem seiner Werke ist Luigi Nono erkennbar, aber seine Art sich auszudrücken, ändert sich je nachdem welche Texte, Besetzung, Kompositionsmethoden und Technologie er benutzt. Prometeo ist auch politisch!      

Inwiefern?
Hier bei uns im Luigi Nono Archiv besuchen uns häufig Schüler- und Studentengruppen. Bevor sie hierher kommen, erzählen ihnen ihre Lehrer und Professoren, dass Nono politisch engagiert war. Dann frage ich sie immer: „Was bedeutet für euch politisches Engagement?“ Denn politisches Engagement ist heute etwas ganz anderes, der Begriff hat sich komplett gewandelt. Und dann sage ich immer: „Forget politics.“

Nono will in all seinen Werken zeigen, was für furchtbare Situationen es in der Welt gibt. Er zeigt menschliches Leid in verschiedener Form: Krieg und Faschismus, ausgebeutete Arbeiter – aber auch auf ganz persönlicher Ebene. Er will, dass jeder wahrnimmt, dass so etwas passiert in der Welt. Und dann am Ende von jedem Werk, egal, ob es einen Text gibt oder nicht, kommt ein Moment der Hoffnung. Jedes Werk endet mit dieser Hoffnung darauf, dass man die Ursachen für das Leid verändern kann - die Hoffnung auf eine bessere Welt. Das gilt gerade auch für Prometeo.


Photos 1: batintherain, www.flickr.com/photos/batintherain/8154804627
Photo 2: tomislav medak, www.flickr.com/photos/tomislavmedak/5762426800