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Interview: Nuria Schoenberg Nono über

Interview: Nuria Schoenberg Nono über "Al gran sole carico d'amore"

Luigi Nonos Musiktheaterwerk Al gran sole carico d'amore wurde 1972 vom Teatro La Scala in Auftrag gegeben. Die Uraufführung fand am 04. April 1975 unter der Leitung von Claudio Abbado im Teatro Lirico in Mailand statt. Zum 40. Jahrestag der Premiere haben wir ein Gespräch mit Nuria Schoenberg Nono (der Witwe von Luigi Nono und der Tochter von Arnold Schoenberg) geführt.

Al Gran sole carico d’amore wurde von Luigi Nono als „un’azione scenica” (szenische Aktion) bezeichnet. Die erste Produktion der Scala ist von einem Team bedeutender Künstler realisiert worden: Luigi Nono, Dirigent Claudio Abbado, Regisseur Yuri Ljubimov (Gründer und künstlerischer Leiter des Taganka-Theaters) und Bühnenbildner David Borowsky. Wie kam es zu dieser Zusammenarbeit?
Luigi Nono interessierte sich sehr für das russische Theater aus den Jahren kurz nach der russischen Revolution (Meierhold, Majakowski etc.). Auch die Stücke der Regisseure Judith Malina und Julian Beck vom Living Theater faszinierten ihn, schon 1966 hatte er mit ihnen zusammengearbeitet. Außerdem bewunderte er die Berliner Inszenierungen von Erwin Piscator aus der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg (1965 haben sie gemeinsam dann die Produktion von Peter Weiss Ermittlung erarbeitet).

Während der Konzipierung seines neuen Musiktheaterwerks reiste Luigi Nono 1973 nach Moskau, um das Taganka-Theater zu besuchen. Dort hat er verschiedene Vorstellungen gesehen, unter anderem auch Hamlet – wovon er besonders begeistert war. Später ist er mit den Entwürfen für Al Gran sole carico d’amore mit mir und unseren beiden Töchtern noch einmal nach Russland gereist. Wir waren in einer Ferienhütte untergebracht, auch andere sowjetische Komponisten hatten dort ihre Datschen. Tagsüber hat Nono Ljubimov sein Konzept vorgestellt, mit Hilfe der wundervollen Übersetzerin Julia Dobrovolskaia. Auch Borovsky und einige junge Tänzer nahmen an diesen Treffen teil. Sie diskutierten ihre Ideen. Nono hat einige Aufnahmen seiner Stücke mitgebracht und andere Komponisten sind Abend für Abend vorbei gekommen, um sich die Stücke gemeinsam anzuhören. Es war eine sehr angenehme Atmosphäre.

Später kam Ljubimov auch nach Venedig, um mit Nono seine Ideen für die Regie der „szenischen Aktion” zu diskutieren. Daraus ergab sich, dass Nono einige Teile der Musik extra komponierte, die gewisse Aktionen auf der Bühne unterstützten sollte. Auch Claudio Abbado war an diesen Diskussionen beteiligt. Die Zusammenarbeit am Teatro Lirico war insgesamt sehr kooperativ.

Borovsky und Lyubimov haben ein wundervolles Bühnenmodell entworfen und es nach Mailand mitgebracht. Alle mechanischen und technischen Elemente und sogar die Beleuchtung waren originalgetreu nachempfunden. Der Chor und die Solisten waren durch Scherenschnitte dargestellt, die Borovsky, der auch Kostümbildner war, erstellt hat. Die hervorragenden Bühnenarbeiter, Elektriker und Tischler der Scala konnten das Bühnenbild im Lirico Theater dem Model maßgetreu nachbauen. Wir können uns glücklich schätzen, dass wir dieses Modell im Archiv der Luigi Nono Foundation für jedermann zugänglich ausgestellt haben.

Wie haben Sie die Uraufführung erlebt? Wie war die Situation und die Stimmung in der Stadt?
Die Presse war in politische Lager aufgeteilt. Die rechts orientierte Presse schrieb darüber, dass Nono kommunistisches Propaganda-Theater an der Scala machen wollte, mit roten Fahnen rund um das Gebäude. Natürlich stimmte das nicht: Die Premiere fand nicht an der Scala statt, sondern im frisch renovierten Lirico Theater, an dem es außerdem möglich war, wochenlang zu proben. Sie haben sich auch darüber beklagt, dass das Projekt Unmengen an Geld kosten würde.

Andererseits haben Nono, Lyubimov und Borovsky viele Abende damit verbracht, das Werk unterschiedlichen Publikumsgruppen zu vermitteln. Es ergaben sich sehr interessante Diskussionen mit verschiedenen Organisationen, Arbeitergruppen und Studenten. Diese Diskussionsveranstaltungen fanden üblicherweise im Anschluss an die stundenlangen Proben statt, bei denen Nono, Lyubimov, Abbado, die Solisten und weitere Interpreten an der Perfektion der Aufführung gefeilt haben. Nono wollte unbedingt, dass die Menschen verstehen, was er mit diesem Werk ausdrücken wollte und welche Mittel er zu diesem Zweck einsetzte.

Die linke Presse hat das Werk vor allem aufgrund der Texte unterstützt, die Musik wurde dabei praktisch nicht erwähnt. Die Proben waren nicht öffentlich, nur wenige gute Freunde sowie die Familie durften diesen beiwohnen (Maurizio Pollini, Luigi Pestalozza, Giacomo Manzoni). Der damalige Intendant der Scala, Paolo Grassi, hat das Projekt übrigens mit voller Kraft unterstützt.


Al gran sole carico d'amore wurde in den 1970ern komponiert, in einer politisch sehr turbulenten Zeit. Das zeigt sich vor allem im Text, der auf Werken von Marx, Che Guevara, Fidel Castro, Lenin und anderen basiert. Ein anderer wichtiger Aspekt des Werkes ist die Auseinandersetzung mit der Rolle der Frau. Was können Sie uns darüber sagen?
Die Texte handeln größtenteils von Frauen, die für ihre Ideale gekämpft und dafür ihr normales Leben aufgegeben haben. In den Texten, die Nono ausgewählt hat, gibt es keine Fanfaren und keine billige Propaganda. Stattdessen legt er den Schwerpunkt auf das Leid und die Zweifel, die diese Frauen durchleben mussten, auf die persönlichen Opfer, die sie erbracht haben. Die großen männlichen Revolutionäre werden durch kurze Zitate zu den jeweiligen historischen Ereignissen repräsentiert. In diesen Zitaten zeigt sich vielleicht auch die Hoffnung für eine bessere Zukunft.

Die Hauptcharaktere sind die Frauen. Die drei Soprane, der Mezzosopran und der Kontra-Alt wurden mit großer Sorgfalt von Nono und Abbado ausgesucht. Sie sind diejenigen, die die Emotionen, Stärken und Schwächen dieser Frauen ausdrücken.

Die Texte stammen aus Briefen und Erzählungen von Tania Bunke, Louise Michel und Haydee Santamaria. Der Titel Al gran sole carico d’amore bezieht sich auf Rimbauds Gedicht Les Mains de Jeanne-Marie, der komplette erste Teil basiert wiederum auf Bertolt Brechts Theaterstück Die Tage der Kommune, in dem der Chor die Kommunarden repräsentiert – Frauen und Männer, die nach der Machtübernahme auf brutale Weise ermordet wurden.

Der Text des zweiten Teils stammt aus Gorkys Mutter, einem 1906 geschriebenen Roman über die revolutionären Fabrikarbeiter. Das Werk wurde in viele Sprachen übersetzt und mehrere Male verfilmt. Auch das Theaterstück Die Mutter (1932) von Bertolt Brecht und seinen Mitarbeitern basiert auf diesem Roman. Es erzählt die Geschichte einer armen Frau, deren Sohn ermordet wurde, als er für gerechte Löhne im zaristischen Russland in Streik trat. Seine Mutter nimmt den Kampf auf und wird selbst ermordet. Ihre Solopartie ist eine der emotionalsten Szenen von Al gran sole carico d'amore.

Manche sagen, dieses Werk sei vielmehr ein Oratorium oder ein Requiem als eine Oper. Was denken Sie darüber?
Wenn er ein Oratorium hätte schreiben wollen, hätte er nicht darauf bestanden, bei seiner “szenischen Aktion” mit dem besten und innovativsten Regisseur und Bühnenbilder Europas zusammenzuarbeiten. 

Nach der Uraufführung hat Die Welt geschrieben, dass Luigi Nono Singstimmen in einer "oft sinnbetörender Schönheit" einsetze. Würden Sie sagen, dass es einen Zusammenhang zwischen Al gran sole carico d'amore und der traditionellen italienischen Oper gibt?
Ich bin sehr glücklich darüber, dass die Menschen nun endlich Luigi Nonos Musik hören und sich nicht nur auf positive oder negative Weise auf die Texte beziehen! Als seine ersten Werke in Deutschland aufgeführt wurden, ging es in der Kritik immer nur um seinen lyrischen "italienischen" Stil und um seine Art für die menschliche Stimme zu komponieren. Später konzentrierten sich seine Freunde und Feinde auf seine politische Haltung. Das machte ihn sehr unglücklich. Er hat sich oft gewünscht, dass die Menschen herausfinden, was ihn als Komponisten ausmacht, als Komponisten einer Musik, die musikalische und humanistische Ideen ausdrückt.

Mit der italienischen Oper ist er aufgewachsen, weshalb ihn die besondere Bedeutung der Singstimme sicherlich beeinflusst hat. Er war jedoch möglicherweise doch mehr an der Polyphonie des 16. Jahrhunderts interessiert und später auch an der sogenannten Zweiten Wiener Schule.

Als Al gran sole carico d’amore bei Salzburger Festspielen aufgeführt wurde, hat es mich überrascht und gefreut, dass viele Festival-Besucher erklärten, sie hätten bei der wunderschönen Musik eine fast schon religiöse Erfahrung erlebt. Seit den frühen 1990er Jahren wird seine Musik von vielen verschiedenen Menschen in vielen unterschiedlichen Ländern neu entdeckt: aufgrund ihrer musikalischen, emotionalen und sozialen Qualität.



Photos: Staatsoper Berlin, Monika Rittershaus