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Nono: PROMETEO in Parma. Interview mit André Richard

Nono: PROMETEO in Parma. Interview mit André Richard

PROMETEO Tragedia dell’ascolto (Prometheus, eine Tragödie des Hörens), das Meisterwerk von Luigi Nono nach einem Libretto vom Philosophen Massimo Cacciari mit Texten von Aeschylus, Walter Benjamin, Friedrich Hölderlin und anderen, wird am 26. Mai im Teatro Farnese in Parma erneut aufgeführt (weitere Vorstellungen am 27. und 28. Mai). Die Produktion des Teatro Regio di Parma nutzt dabei die kürzlich veröffentlichte neue Edition, die von André Richard und Marco Mazzolini herausgegeben wurde. 

33 Jahre sind seit der Uraufführung von Prometeo am 25. September 1984 in der Chiesa di San Lorenzo in Venedig vergangen, 27 Jahre seit dem Tod des Komponisten. Der autographen Partitur, die Nono Ricordi überließ, fehlten zahlreiche Angaben in Hinblick auf wichtige Aspekte der Aufführungspraxis (vokal, instrumental und elektronisch), die nun nach intensiver Analyse einer Gruppe aus Interpreten und Experten wieder eingefügt wurden. Die mehr als 60 Aufführungen von Prometeo seit 1990 waren nur Dank der Beiträge von Musikern, die noch mit Nono zusammengearbeitet hatten, möglich gewesen. 
André Richards Mitwirkung in den frühen Aufführungen, die Nono selbst noch besuchte, seine Arbeit als Tonmeister für Prometeo und seine langjährige musikpraktische Erfahrung haben die Erstellung einer elektronischen Partitur – immerhin ein wesentlicher Bestandteil von Prometeo – erst möglich gemacht. Die neue Edition bietet die endgültige Lösung des Problems, vor das die Partitur die Künstler bisher stellte, indem sie die „Tragödie des Hörens“ so präsentiert, wie Luigi Nono sie einst entworfen hatte. 

Wir haben mit Maestro André Richard über das Werk gesprochen. 


Herr Richard, Sie waren an den ersten Aufführungen in Venedig und Mailand beteiligt. Können Sie uns etwas über den Kontext und die Atmosphäre damals erzählen?
Die Vorbereitungen zur Uraufführung von Venedig 1984 waren sehr spannend. Ich glaube niemand von den Mitwirkenden konnte sich vorstellen, wie dieses visionäre musikalische Projekt wirklich realisiert werden würde. Das Projekt war einfach schon deshalb außergewöhnlich, weil fast alles, was im Verständnis und im Zusammenhang mit dem Ausüben von Musik Bestand hatte, „anders“ werden sollte. In den Gesprächen zu Prometeo legte Nono immer wieder eingehend sein Raumklangkonzept dar und wie er es sich vorstellte, die einzelnen Musiker-Gruppen im Raum zu positionieren. In einem Brief an den Architekten Renzo Piano vom 6. Dezember 1983 schrieb er: „Non opera/ non regista/ non scenografo/ non personaggi tradizionali/ ma/ drammaturgia-tragedia con suoni mobili che/ leggono scoprono/ svuotano riempiono lo spazio“ (1).
Dazu entwarf Renzo Piano ein hölzernes Auditorium – von den Mitarbeitern Nonos „La Struttura“ genannt–, das in der Kirche San Lorenzo in Venedig aufgebaut wurde. Massimo Cacciari verfasste und stellte die Texte für Prometeo zusammen; im Experimentalstudio der Heinrich-Strobel-Stiftung des SWF wurde die Live-Elektronik programmiert und die klangtechnische Infrastruktur für die „Struttura“ vorbereitet; der Maler Emilio Vedova entwarf seine Studien „Segni-immagini in movimento per Prometeo“ für die „Interventi-Luce“ (Lichtprojektionen), und auf der Grundlage ausgedehnter Klangexperimente mit seinen Musikern im Experimentalstudio komponierte Nono seine Raumklangmusik. 

Alles, was damals im Vorfeld (1983 -84) zur Uraufführung von Prometeo geschah, war ungemein an- und aufregend! Und natürlich kam Nono mit dem Näherrücken der Proben immer mehr unter Druck. Die Noten für den Chor kamen zum Beispiel in Teilsendungen an etc.
Als dann Ende August die Musiker zu den Proben in Venedig anreisten, nahm die Anspannung bei Nono noch zu. Die „Struttura“ war immer noch im Bau, und man musste im Arsenale proben. Zu diesem Zeitpunkt konnte man auch fühlen, wie die enorme Verantwortung, die auf ihm lag, Nono belastete. Ging es doch in weiten Teilen um musikalisch „Unerhörtes“, das erst erprobt und erhört werden konnte, wenn alle Einzelheiten und Parameter zur Verfügung standen. Viele musikalische Details sollten erst nach abklärenden Klangversuchen mit der Live-Elektronik im fertig erstellten Raum endgültig für die Aufführung bestimmt werden. Der Bau der „Struttura“ war aber mindestens 15 Tage im Verzug. Nono und Hans Peter Haller, der damalige Leiter des Experimentalstudios, wurden nervös. Sie konnten nur zwischendurch – in den kurzen Pausen der Bauarbeiter – ein paar Lautsprecher-Positionen testen, um zu erfahren, wie der Raum ungefähr klingen würde. Als endlich die Bauarbeiten fertig waren, begannen die Proben mit den Musikern im Raum und allmählich konnte man immer besser hören und verstehen, wie Nono seine Musik erdacht hatte. 
Uraufführungen sind im Vorfeld immer spannungsgeladen. Bei Prometeo in Venedig war aber eben vieles völlig neu und unerprobt. 


Wie hat das Publikum reagiert?  
Für das Premierenpublikum war das Zu-Hören der Musik eine Herausforderung. Nur die Minderheit wahren wirklich aufgeklärte Zuhörer. Allmählich, mit dem Fortschreiten der Aufführung wurde das Publikum unruhig und man konnte die Geräusche von Stühlen auf dem Holzboden des Auditoriums wahrnehmen. Viele waren mit dieser Raumklangmusik ganz einfach überfordert und verließen, ihren Unmut bezeugend, nicht ganz diskret den Raum. Für diejenigen aber, die “ihre Ohren aufgeweckt” hatten, wurde die Aufführung zu einem unvergesslichen, prägenden musikalischen Ereignis.
Heute, mit zeitlichem Abstand, kann mann mit Gewissheit sagen, dass Nonos Arbeit und die Uraufführungen von Prometeo in Venedig 1984 und Mailand 1985, zu einem Meilenstein in der Musikgeschichte des 20. Jahrhunderts wurden. 


Sie haben seit mehr als 30 Jahren das Werk aufgeführt und daran gearbeitet. Was sind die neuen Aspekte, die sie entdeckt haben? Welche neuen Erfahrungen resultierten daraus? 
Meine musikalische Ausbildung begann ich mit einem Gesangsstudium, danach mit dem Kompositionsstudium und abschließend mit erweiterten Studien für Live-Elektronik im IRCAM Paris und dem Experimentalstudio des SWR Freiburg im Breisgau und wegen Nono began ich auch zu dirigieren. 
Seit 1981 war ich bei der Produktion von Prometeo in unterschiedlichen musikalischen Funktionen beteiligt. Zuerst bei der Entstehung von Prometeo und später bei allen Proben und Aufführungen von sämtlichen Aufführungsorten bis 2015.
Es begann 1981 mit der Gründung vom Solistenchor Freiburg für die Realisierung  von “Das atmende Klarsein” für kleinen Chor, Bassflöte und Live-Elektronik. Dieses Werk hatte Nono als Finale vom Prometeo vorgesehen. Aus den gemachten Erfahrungen mit diesem Werk bat mich Nono 1983, nach spezifischen Anforderungen die die Klangfarbe betrafen, den Chor für die Uraufführung von Prometeo neu zusammenzustellen und einzustudieren. Nach den Uraufführungen war ich ab 1987 sowohl mit dem Solistenchor und zum Teil mit dem Einstudieren der Sängersolisten beteiligt und wirkte bei der Klangregie mit. 

Nach Nonos Tod (8. Mai 1990) wurde für mich die erste Aufführung 1991 in Gibellina (Sizilien) zur grossen Herausforderung. Als neuer künstlerischer Leiter des Experimentalstudios musste ich plötzlich Entscheidungen treffen, die zuvor Nono und auch Hans-Peter Haller trafen. Dabei wurde ich auch von den engen vertrauten Musikern von Nono und Alvise Vidolin unterstützt. Das Wissen, wie man mit dem Werk umzugehen hatte, beruhte auf einer mündlichen Überlieferung, von der jeder seinen Teil beisteuern musste, damit die Aufführung gelang. Dieser Prozess war äusserst wichtig, denn Nono hatte die Angaben zur Interpretation und die Änderungen, die bei den Proben und den Aufführungen entstanden, in der Partitur nicht mehr nachtragen lassen. 
So kam es, dass ich mit der Zeit das Wissen für die notwendigen Vorkehrungen, die musikalischen Para-meter und Entscheidungen für eine Prometeo-Aufführung wieder zusammentragen konnte. Es war ein langer Prozess der Jahre dauerte. 
Die Auseinandersetzung mit der Komposition und den gemachten Erfahrungen bei den Aufführungen verhalfen mir zu einem tieferen Verständnis der Musik. Heute kann ich eigentlich gar nicht mehr richtig sagen, was mich anfänglich so tief beeindruckte. Es war sicher die schöpferische Kraft von Nono ein solches
Werk erdacht und realisiert zu haben. Es ist die Inszenierung von Klang in Verbindung mit den Mitteln der Live-Elektronik, es ist die Komposition vom Raumklang und schließlich auch die Herausforderung an jeden einzelnen Musiker für ein neues Verständnis des Musik-Ausübens.


Welchen Rat würden Sie einem Dirigenten geben, der Prometeo zum ersten Mal aufführt? 
Die Frage enthält bereits einen Teil der Antwort: Für die Aufführung von Prometeo braucht es sich nicht, wie üblich anzunehmen wäre, einen Dirigenten der das Werk alleine mit den Musikern aufführt. Diese Vorstellung gehört dem traditionellen Musikbetrieb an wo es für das hörbare ästhetische Gesamtresultat den alles allein bestimmenden Maestro gibt. Für die Aufführung von Prometeo hat Nono zwei Dirigenten vorgesehen. Zum einen wird dies hervorgerufen durch Dirigate von gleichzeitig unterschiedlichen Tempoangaben wie z.B. im Prologo, zum anderen aber auch durch gleichzeitig synchrone Dirigate von unterschiedlichen Musikergruppen. Die Vorgabe hat aber auch mit einem unterschiedlichen Denken und Empfinden, also nicht mit einer Vereinheitlichung, sondern mit der Aktzeptanz der Differenzierung durch verschiedene Menschen zu tun und mit Nono’s Teamwork-Vorstellung für die Realisierung des Werkes. 
Wie schon gesagt handelt es sich also nicht um einen Hauptdirigenten mit einem Assistenten oder Hilfsdirigenten. Im Weiteren müssen die räumlich klanglichen Entscheidungen vor allem durch den Leiter der Klangregie getroffen werden. Für die Umsetzung, die Realisierung, müssen diese ebenfalls in Zusammenarbeit mit den beiden Dirigenten erfolgen. Nono hörte und leitete von der Klangregie aus das klangliche Gesamtresultat. Denn nur vom Zentrum des Raumes aus können die verschiedenen musikalischen Ereignisse zusammengefügt und transparent für die Inszenierung der Klänge dargestellt werden. Von den Standpositionen der beiden Dirigenten aus, ist dies nicht möglich und es bedarf daher einer engen Zusammenarbeit zwischen den beiden Dirigenten und dem Leiter der Klangregie. Auch für den Dirigenten geht es somit um ein neues Verständnis des Musik-Ausübens.


Was können Sie uns über die neue Edition verraten?
Es sind nun mehr als 25 Jahre, dass Marco Mazzolini von Ricordi Mailand und ich mit der Herausgabe vom Spätwerk von Nono beschäftigt sind. Es fing an mit “Omaggio a György Kurtag” und endete vor drei Jahren mit der Herausgabe von “Risonanze erranti”. Bei jeder Arbeit waren wir immer wieder von neuem mit Nono’s inhärenten Vorgehensweise konfrontiert. Das lag vor allem daran, daß die Interpretation der Partitur, sprich, die Artikulationen, die Art und Weise des Spielens in Verbindung mit der Elektronik nicht entsprechend in den Manuskripten notiert war. Sie waren das Resultat von längeren Experimentierphasen 
im Experimentalstudio des SWR und blieben dann als mündliche Überlieferung im Wissen der Interpreten.
Diesen Vorgang habe ich schon mehrere Male ausführlich beschrieben und will mich hier nicht länger
aufhalten. Wichtig dabei aber ist, dass wir bei unseren verlegerischen Arbeit sehr schnell verstanden wo die Grenzen der graphischen Notation liegen. Nehmen wir ein einfaches Beispiel “A Pierre. Dell’azzurro silenzio, inquietum” von 1985. In der Partitur stehen Noten, die schlussendlich nur noch wenig dem akustisch hörbaren Resultat entsprechen. Die Frage stellt sich: Von wo kommen dann die anderen hörbaren Klänge her und wie werden sie wirklich gespielt? Geht man noch einen Schritt weiter, dann begegnet man unweigerlich der technischen materiellen Dimension. Z.B: spielen die meisten Klarinettisten das Werk mit einer Metall-Kontrabassklarinette. Der Klarinettist Ciro Scarponi hat aber mit Nono die klanglichen Experimente auf einer selten anzutreffenden Klarinette aus Palisanderholz durchgeführt, die sich sehr vom Klang einer Metall-Kontrabassklarinette unterscheidet. Im Weiteren hat die analoge elektronische Aufführungspraxis und deren Medien einen grossen Einfluss auf die Klangfarbe der Komposition. Schon allein wenn diese wenigen Voraussetzungen nicht mehr vorhanden sind, entscheiden und verflachen sich die ursprünglichen schöpferischen Ansätze von Nono sehr schnell. Das einfache Beispiel zeigt, dass das klangliche Resultat und dessen Realisierung einzig und allein durch die graphische Notenschrift nicht mehr ausgedrückt und transportiert werden kann.

Für die Erstellung der neuen Ausgabe vom Prometeo war die Aufgabe “das Spielen der Live-Elektronik” und die dazu gehörenden Paramter in der Partitur zu integrieren, bedeutend schwieriger und komplexer. Es handelt sich um eine reine Raumklangkomposition, die in der Partitur möglichst verständlich notiert werden musste. Wie das Werk schlussendlich klingt, hängt stark von den akustischen Gegebenheiten des Aufführungsraumes ab und somit von mehreren Parametereinstellungen die sich von Aufführung zu Aufführung ändern können. In der Partitur können sich festgeschriebene Parameterangaben wie zum Beispiel die Halldauer, der Transpositionsanteil zum Originalklang, die Dichte der Schichtungen, die Geschwindigkeit der Raumklangbewegungen etc. in einem neuen Aufführungsort als nicht gebräuchlich erweisen. Sie sind von vornherein als falsche Angaben verdammt. Bei der Edition ging es darum, für diese nicht endgültig formulierbaren Vorgänge eine mögliche Formulierung zu finden deren Folgen dann in Zukunft, möglichst im Sinne von Nono, hörbar realisert werden können. Ich glaube, wir haben einen Weg dazu gefunden.
Bei meiner Auseinandersetzung mit diesen Problemen verstand ich auch, warum Nono diese Vorgänge und die Niederschrift der Elektronik nicht erläutert und notiert hat. Die Integration der live elektronischen Daten für die Aufführungspraxis in der Partitur ist mit grossem Zeitaufwand verbunden – er hätte uns sehr wahrscheinlich ein bis zwei Werke weniger hinterlassen können…


Was meint Nono mit dem Untertitel eine „Tragedia dell’ascolto“ (Tragödie des Hörens)? Und was halten Sie davon?
Nono hat in jahrelangem Ausstausch mit dem Philosophen Massimo Cacciari die Ideen zur “Tragedia dell’ascolto” entwickelt. In seinem Artikel “Verso Prometeo” schreibt Cacciari: “… Alles ordnet sich funktionell dem Hören unter, keinerlei Schmuck, keine Effekte. Gerade ein Ort, an dem sich das Hören nicht zerstreut, kann sein eigenes Prinzip reflektieren.” (2)  Im Prometeo gibt es keine Inszenierung für Sänger, die auf der Bühne agieren. Nono hat aber mit den Mitteln der Live-Elektronik klar definierte Teile seiner Komposition als musikalische Ereignisse im Raum inszeniert, deren Zuordnungen oft eng mit dem Inhalt der Texte verbunden sind.
Obgleich nun durch den Einsatz der technischen Mittel die Leistung der Interpreten nicht mehr allein nur durch ihre Person präsent ist, ergeben sich in der Gesamtheit – mit den Musikern, mit dem eigens für die Musik von Prometeo erbauten Klangraum und der live-elektronischen Interpretation – neue unerwartete auratische Qualitäten. Darin besteht eine der visionären Momente dieser „Tragedia dell’ascolto“, dieser Musik. Nur an einem Ort und in einem Klangraum, der dafür gestaltet wird, kann man diese Musik richtig erhören und erfassen. Prometeo ist eine Absage an ein durch den Alltag und die Medien konditioniertes Wahrnehmungsverhalten. Die „Tragedia dell’ascolto“ führt zurück zum Geschehen, in einen bestimmten Raum, zu einer echten Begegnung und wiederbelebten Kommunikation zwischen Interpreten und Zuhörern. Sie führt uns zurück zu einem einmaligen, nicht wiederholbaren, genuinen Hörerlebnis.

A:R. 1. Mai 2017


(1) Umberto Allemandi & C.: Nono Vedova, Diario di bordo, 2005, S. 102
(2) Massimo Cacciari: Verso Prometeo, RICORDI 1984, pag. 21 


Foto: André Richard con Luigi Nono (Prometeo 1985, Stabilimento Ansaldo Milano)