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Interview: Dr. Clemens Trautmann

Interview: Dr. Clemens Trautmann

Dr. Clemens Trautmann, President Deutsche Grammophon, über RicordiLab, Huang Ruo, die Strategie und anstehenden Veröffentlichungen des Labels, Digitalisierung und die Zusammenarbeit mit den Verlagshäusern von Universal Music.  


Sie haben in Lübeck und an der Juilliard School New York bei Sabine Meyer und anderen studiert. Nach dem Klarinettenstudium haben Sie Jura studiert und anschließend in führender Position bei Springer und Immonet gearbeitet. Wie kam es zu dem Wechsel weg von der Musik?
 
Weg von der Musik war ich eigentlich nie, auch als Jurist oder in Management-Verantwortung war es mir immer wichtig, zu spielen. Vor allem Kammermusik, eine gute Handvoll Male im Jahr auch in öffentlichen Konzerten oder auf Festivals. Aber um die Klarinette ganz und gar zu meinem Beruf zu machen, fehlte mir wohl das Zutrauen, dass ein Orchester-Job oder eine Lehrtätigkeit – und das ist für einen Holzbläser fast immer die Basis – mich vierzig Berufsjahre ausfüllen würden. Trotz großartiger Standardwerke und toller zeitgenössischer Musik für Klarinette bleibt das Repertoire doch begrenzt.
 
In den USA haben Sie auch den Komponisten Huang Ruo kennengelernt. Was denken Sie über seine Musik?
 
Ja, wir haben damals beide im Wohnheim der Juilliard School gelebt, uns in der Cafeteria oft über Musik ausgetauscht und in New York viel auch im gemeinsamen Freundeskreis unternommen. Es freut mich für Huang Ruo, dass seine Musik international so gut rezipiert wird. Der Kern war schon damals vorhanden: Er schafft unverwechselbare Klangwelten, die von traditioneller chinesischer Musik angeregt sind, ohne dabei auch nur ansatzweise folkloristisch zu sein.
 
Auf welche Veröffentlichungen der DG im Jahr 2018 freuen Sie sich besonders?
 
Wir feiern dieses Jahr das 120-jährige Bestehen der Deutschen Grammophon – und aus diesem Anlass werden wir einige Preziosen aus der Frühzeit unseres Labels veröffentlichen. Und natürlich freuen wir uns auf den 100. Geburtstag von Leonard Bernstein im August – neben Erstveröffentlichungen aus Tanglewood und einer Gesamtedition seines kompositorischen Schaffens wird es eine neu eingespielte „Mass“ mit dem Philadelphia Orchestra unter Yannick Nézet-Séguin und ein Hommage-Album der großartigen amerikanischen Sopranistin Nadine Sierra geben.
 
Wie arbeiten Sie mit den Klassik-Verlagen von Universal Music zusammen?
 
Wir nutzen alle Möglichkeiten der Kooperation. Zum Beispiel haben wir uns bei der Vorbereitung der Releases zum 100. Todesjahr von Claude Debussy an der Kritischen Edition von Durand-Salabert orientiert und die Neuausgaben auch unseren Künstlern zur Einspielung zugänglich gemacht. Im Bereich der sogenannten Neo-Klassik arbeiten wir auch eng mit unseren Londoner Kollegen von Decca Publishing zusammen – etwa bei den Werken von Max Richter. 
 
Bei unserem Kompositionswettbewerb RicordiLab waren Sie Mitglied des advisory boards. Welche Erfahrungen haben Sie dabei gemacht?
 
Die Vielfalt und Vielschichtigkeit des gegenwärtigen kompositorischen Schaffens ist bemerkenswert. Was Adorno einmal als „Stand des Materials“ bezeichnet hat, ist heute nicht mehr auszumachen, weil schon die Ansätze viel zu unterschiedlich sind. Die Jurytätigkeit hat mir einen tollen Überblick über Tendenzen verschafft, und ich freue mich auch, dass die Auswahl der Preisträger Sarah Nemtsov, Shiori Usui und Steffen Wick die ganze Vielfalt und Lebendigkeit von Avantgarde-Musik widerspiegelt.
 
Was ist Ihre Strategie für die Zukunft der Deutschen Grammophon?
 
Wollen Sie die Kurz- oder Langform haben? Im Kern geht es darum, unseren etablierten wie auch unseren jungen Künstlern eine Heimat zu geben, in der sie glaubwürdige und innovative Aufnahmeprojekte umsetzen und dabei das ganze Instrumentarium eines Major Labels nutzen können: von der A&R-Beratung und exzellenten Technologie über inspirierte Video-Tools und ein ausgefeiltes Artwork bis hin zur langjährigen Expertise im physischen wie im digitalen Vertrieb. Ein Kollege hat treffend davon gesprochen, dass die DG sich wie ein „Independent Label mit Muskeln“ anfühle. Und wir wollen die strahlkräftige Marke weiter als Gütesiegel stärken, damit die hochqualitativen Produktionen unserer Künstler auch von außen sofort erkennbar sind und sich die Konsumenten im Veröffentlichungs-Dschungel besser orientieren und ihre knappe Zeit für das Erleben von Musik optimal investieren können.
 
In der Pop-Musik spielt Streaming eine große Rolle. Wie sieht es in der Klassik aus?
 
Streaming wächst auch in der Klassik rasant, in den internationalen Märkten noch stärker als in unserem deutschen Heimatmarkt. In den USA stammen bereits über die Hälfte der Klassik-Erlöse aus Streaming-Abos. Das hat natürlich auch Auswirkungen auf die Repertoire-Politik: Wenn zum Beispiel auf Spotify oder Apple Music direkt nebeneinander Hunderte von Aufnahmen der „Mondschein-Sonate“ oder der „Jupiter-Symphonie“ stehen und sich gegenseitig Konkurrenz machen, dann wird der Ansporn noch größer, mit unseren Künstlern etwas Herausragendes aufzunehmen oder aber ein ganz neues einzigartiges Repertoire zu schaffen. Womit auch wieder zeitgenössische Kompositionen relevanter werden.
 
Was würden Sie als Digital-Experte den Klassik-Musikverlagen in Hinblick auf die Digitalisierung raten?
 
Aus meiner Erfahrung als ehemals Verantwortlicher für den digitalen Immobilienmarktplatz Immonet wäre mein Ratschlag: Keine Angst vor Selbstkannibalisierung! Als der Axel Springer Verlag 2001 in Immonet investierte, lag der Umsatz mit Print-Immobilienanzeigen, den man dadurch ins Risiko stellte, noch im dreistelligen Millionenbereich, während die neuartige Online-Vermittlung im Vergleich Mini-Beträge erlöste. Inzwischen haben sich die Verhältnisse komplett umgekehrt. Investitionen in digitale Modelle sollten nicht daran scheitern, dass sie das Bestandsgeschäft gefährden. Denn am Ende entscheiden sich die Konsumenten immer für die anwenderfreundlichere Alternative, und es ist doch zweifelsfrei am besten, wenn die dann von einem selbst kommt.

Photo: Laurence Chaperon / Universal Music