Auf unserem Blog stellen unsere Komponisten regelmäßig ihre Lieblingswerke aus unserem Katalog vor. Dieses Mal: Fabien Lévy schreibt über Stèle von Gérard Grisey.
Gérard Grisey: Stèle
11. November 2013. Heute genau vor 15 Jahren starb Gérard Grisey unerwartet im Alter von 52 Jahren. Ich erinnere mich noch immer an jenen Mittwoch, als uns die Nachricht völlig sprachlos machte, uns, seine Komposition-Studenten im Conservatoire National Supérieur de Musique de Paris (ich war damals in meinem letzten Studienjahr und sollte einige Monate später mein Examen absolvieren). Wie üblich hatten wir am Samstag zuvor Unterricht, und Grisey hatte mit uns dabei zum ersten Mal über den Tod seines Kompositionslehrers Olivier Messiaen gesprochen. Ein weiterer erschütternder Zufall, der mich lange an eine Inszenierung glauben ließ: Grisey war gerade dabei, seine quatre chants pour franchir le seuil zu komponieren, vier wunderbare Stücke zum Thema Tod.
Vier Jahre zuvor verstarb fast am gleichen Tag (29. November 1994) nach langer Krankheit im Alter von 33 Jahren der junge Komponist Dominique Troncin. Auch Dominique war in meinem Leben eine wichtige Person, da ich damals noch in Bezug auf das Komponieren ein Amateur war und meine wissenschaftlichen Studien verfolgte. Er empfahl mir, am Conservatoire Américain de Fontainebleau zu studieren, bei den Sommerkursen, die vor dem Krieg von Nadia Boulanger vor allem für amerikanische Studenten ins Leben gerufen worden waren. In jenem Jahr (1990) arbeitete Dominique dort als Koordinator und Professor für Analyse, und Tristan Murail und André Boucourechliev unterrichteten Komposition. Ein interessanter Zufall wollte es, dass ich ca. 15 Jahre später Tristan Murails Kollege an der Columbia University in New York werden und von 2007 bis 2010 am amerikanischen Konservatorium von Fontainebleau unterrichten sollte.
Anlässlich des Todes von Dominique Troncin hatte das Ensemble Fa unter der Leitung von Dominique My bei Radio France ein Erinnerungskonzert organisiert, und viele Komponisten hatten zu diesem Anlass Stücke geschrieben. Stèle (1995) von Gérard Grisey war auch darunter, und dieses Werk war unter den anderen, anonymeren Stücken eine Explosion an Originalität und Tiefgründigkeit – obwohl paradoxerweise die Instrumentierung dieses Werkes mehr als minimalistisch war: nur 2 große Pauken!
Es war nicht das erste Werk, das Grisey für Schlaginstrumente ohne Tonhöhe komponiert hat. Bereits Ende der 1970er hatte sich Grisey entschieden, ein Werk ohne fixierte Tonhöhe zu schreiben. Dies geschah zu einer Zeit, als sich der Begriff „spektral“ durchzusetzen begann und Techniken zu Frequenzen immer wichtiger wurden. Es gab auch Tempus ex Machina (1979) für sechs Schlagzeuge; 1991 folgte le noir de l’étoile für sechs Schlagzeuge und live-übertragene Pulsarsklänge (Uraufführung am 16. März 1991 in Brüssel, Beginn um 17:00 Uhr, die Pulsarsignale waren um 17:46 präzise zu vernehmen). In diesen beiden Werken war die Instrumentierung jedoch sehr umfangreich.
Stèle mit seiner extrem begrenzten Besetzung stellt eine Herausforderung dar. Man muss kurz die Geschichte des Schlagzeugs betrachten, um die historische Genialität des Werkes zu verstehen. Das Schlagzeug war immer zweitrangiges Beiwerk in der abendländischen Musik. Durch den türkischen Einfluss, insbesondere durch die Janitscharen, (siehe Mozarts Türkischer Marsch), hat das Schlagzeug lange Zeit im Orchester nur Akzente gesetzt, im Tutti mitgewirkt und die „Hauptmusik“ begleitet. Der abendländischen Musiktradition war eine Musik ohne Tonhöhen, die nur auf „Geräuscheffekten“ beruhte, lange Zeit unbekannt. Es ist auch erstaunlich, dass jeder Instrumentalist im abendländischen Orchester höchst spezialisiert ist, und nur die Perkussionisten dazu ausersehen waren, „den Rest“ zu spielen, also das, was die anderen nicht spielen – Xylophon und Pfeife, Zugflöte und Windmaschine, Becken und Pauken.
Das erste Werk für Percussion solo erschien erst im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts: Ionisation (1933) von Varèse (1883-1965), ein Komponist, der von den Bruitismus-Theorien des italienischen Futuristen Luigi Russolo beeinflusst wurde. Man ist weit entfernt von den alten und perfektionierten Praktiken der Perkussion, wie wir sie aus den meisten Kulturen in Afrika, Amerika oder Asien kennen. Dies ist eine weitere Abweichung unserer abendländischen Kultur: Obwohl viele Kulturen ein Minimum an Perskussionsinstrumenten mit einem Maximum an Farben und Spieltechniken (z.B. die berühmte Tabla Nordindiens) verwenden, benutzen die abendländischen Komponisten das Schlagzeug nur, um grosso-modo einen Einheitston zu erschaffen: die große Trommel macht „Bumm“, das Tom „Ping“, das Becken „Tschh“ und das Tam „Dong“. Ein Überschwang an Mitteln für ein Minimum an Subtilität, wie so oft im Abendland …
Stèle ist darin bahnbrechend und genial: zwei große Trommeln, eine mittlere und eine tiefere. Letztgenannte mit einer Holzkugelkette verziert, um den Ton „unrein“ erscheinen zu lassen, ähnlich wie bei den afrikanischen Instrumenten, die man so präpariert, dass sie ihren Klang weniger harmonisch, aber reichhaltiger gestalten (kleine Kugeln mit Netzgewebe, um die Holzbläser zum „Schnarren“ zu bringen, kleine Metallglocken für die Senza). Wie für die nord-indische Tabla oder das süd-indische Mridongam werden in Stèle verschiedene Stellen des Fells der großen Trommel verwendet, um die Farben zu verändern. Letztlich werden sechs Stäbe von unterschiedlicher Härte, Stärke und Konsistenz (Holz, Filz, Rohrstücke vom Typ „hot rods“) verwendet sowie auch zwei Arten von Bürsten (die das Fell abreiben, um die Stille zu „bewohnen“). Die großen Trommeln verfügen auch über Dämpfer, um den Klang zu dämpfen und zu modifizieren. Die zwei Instrumente werden zudem mit ihrem vollen Farbreichtum eingesetzt.
Das Stück ist auch sehr ingeniös komponiert: Die Instrumentalisten müssen in großem Abstand platziert sein, um Echos, rituelle Effekte und langsame und trauermusikalische Rhythmen zu erzeugen, die sich klar und effizient in einer rhythmischen und äußerst präzisen polyrhythmischen Schrift dramatisieren.
In einer Zeit, in der Komponisten „zeitgenössische Musik“ ohne Originalität schrieben oder schreiben und das Fehlen von Subtilität hinter einer falschen chaotischen Komplexität verstecken, die „dissonant“ wirken soll, ist Stèle, wie das gesamte Schaffen Griseys, ein Musterbeispiel für Komponisten: das Werk ist höchst erfinderisch und musikalisch tiefgreifend zugleich. Es benützt minimale Mittel, die es genial und in ihrer ganzen Bandbreite erforscht. Grisey war in der Tat ein anspruchsvoller Komponist, der gute Musik liebte und in diesem Sinn bescheiden war. Er lehnte es ab, Karriere „zu machen“ (zum Zeitpunkt seines Todes lag keine CD mit seinen Werken vor), oder sich selbst und seine Formsprache endlos zu reproduzieren. Er arbeitete jeden Tag, komponierte aber nur etwa alle zwei Jahre ein neues Werk. Jedoch sind alle seine Kompositionen einzigartig und irreversibel. Er verlangte auch von seinen Schülern, echte Risiken einzugehen, auch wenn sie das Publikum irritieren oder im Widerspruch zur Musikindustrie stehen. Er verlangte von uns, zu komponieren und nicht zu produzieren, und immer zu versuchen, unser Bestes zu geben, und immer bereit zu sein, zu überraschen.
Nach seinem Tod sind wir alle nach London gefahren, um der posthumen Premiere der quatre chants pour franchir le seuil beizuwohnen. Während wir eine Komposition im Stil seiner letzten Werke - Vortex temporum oder Stèle - erwarteten, hatte sich Grisey doch wieder selbst erneuert und lieferte uns eine letzte Kompositions-Lektion, posthum und unvergesslich.
Fabien Lévy, 11. November 2013