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Sergej Newski: Mein Berlin

Sergej Newski: Mein Berlin

Ich kam 1994 zum Studieren nach Berlin. Damals war es üblich, im Osten der Stadt zu wohnen und im Westen zu studieren. Die Infrastruktur auf der heutigen Partymeile Simon-Dach-Straße in Friedrichshain be- stand damals aus einem einzigen Spätkauf, es gab Straßenschlachten zwischen Nazis und Autonomen bzw. zwischen den Autonomen und der Polizei. Die durchschnittliche Wartezeit auf einen Telefonanschluss in Ost-Berlin betrug sechs Monate. Die wichtigsten Eindrücke waren aber die musikalischen: Helmut Lachenmann feierte 1995 seinen 60. Geburtstag mit einem Vortrag und einem Konzert im Berliner Club Podewil. Claudio Abbado dirigierte in einem Abo- Konzert Tschaikowskis 1. Klavierkonzert zusammen mit den „Gruppen“ von Karlheinz Stockhausen. Michael Gielen setzte im Konzerthaus frühen Morton Feldman und Johann Sebastian Bachs 50. Kantate aufs Pro- gramm. In den Räumen der ehemaligen Staatsbank der DDR kam es zur Aufführung einer unbekannten Oper von Alexander Mossolow, bei der sich in jedem Raum ein Sänger verschanzte und in einer endlosen Schleife seine Arie sang. Das Publikum spazierte von einem Raum in den anderen und „sah dem Sänger bei der Ausübung seiner beruflicher Tätigkeit zu“ – so damals Heinz-Klaus Metzger. Das Stadtleben hatte dagegen eine angenehme Regelmäßigkeit. Jeden Januar gab es eine Haushaltsperre. Jeden zweiten Juli-Samstag, pünktlich zu den Aufnahmeprüfungen an den Musikhochschulen, die Love Parade. Und die allgemeine Berliner Plage, die fast alle betraf hieß: Techno-Nachbarn.

Die Frage, mit der man sich damals als Komponist bewusst oder unbewusst beschäftigte, war: Was von den 80er Jahren, die sich vor allem durch den Pluralismus oder, kritischer betrachtet, durch die fast vollständige Ausschaltung von Kriterien (anything goes) auszeichnete. Wer oder was würde die neuen Kriterien bilden? In den 80er Jahren gab es bereits: Konzeptualisten (noch ohne Beiwort „Neue“), Minimalisten, deutsche Neoromantiker, die große Orchesterwerke schrieben, sowie eine bereits ausgereifte Szene der New Complexity. Durch den Eisernen Vorhang zwischen deutschem und französischem Musikleben damals sickerten die ersten Berichte durch, dass es auch ein Leben nach Pierre Boulez gibt, und dieses hieß „la musique spectrale“. In einem Seminar präsentierte mein Lehrer Friedrich Goldmann ein Orchesterstück Tristan Murails, zusammen mit einem Stück einer jungen, noch unbekannten Österreicherin namens Olga Neuwirth.

In Rahmen dieser Auswertung des Archivs der 80er Jahre kam es zuerst zu einigen Heiligsprechungen, die vor allem die Komponisten betrafen, die die Reduktion des Materials mit metaphysischem Anspruch verbunden hatten. Morton Feldman, der späte Luigi Nono und Giacinto Scelsi wurden zu Ikonen der Zeit. Man spürte aber auch die Notwendigkeit eines Ge- gentrends, der die Selbstverständlichkeit der These „Reduktion gleich Heiligenschein“ in Frage stellte. Enno Poppe nannte diesen Gegentrend „verschwenderisch“ und meinte es positiv. Das Verschwenderische ging sowohl auf die „Wucherung“ von Boulez zurück als auch auf die ersten Ansätze algorithmischen Komponierens. Die abstrakte Logik der Prozesse traf in den ersten algorithmischen Stücken von Poppe und Hanspeter Kyburz auf eine Teilrehabilitierung der zuvor tabuisierten dramaturgischen Modelle und instrumentalen Gesten – diese Ambivalenz machte die Musik spannend. Und aus dieser Spannung zwischen Abstraktion und Spielfreude, zwischen Komplexem und Unmittelbarem, entstand ein Stil, der die Zeit prägte. Es war plötzlich wieder interessant, für Ensemble zu schreiben, denn der Kontext hat sich geändert. Wichtig ist nicht das Material, sondern was mit dem Material passiert. Die Musiker waren dankbar und förderten immer wieder neue Ensemblestücke, deren Erfolg oft von der Lesbarkeit der Syntax abhän- gig war. Und es kam zu einer Verkehrung der Hierarchien: Nicht der Komponist entschied, was gut oder schlecht ist, sondern der Interpret wählte die Musik aus, die ihm Freude am Spielen brachte. Jedes wichtige neue Musik-Kollektiv in Europa startete einen Workshop für junge Komponisten, in dem die künftigen Partner unter den Komponisten in einer Art Casting ausgesucht wurden. Das allgemeine Kriterium der 90er Jahre hieß nun „Machbarkeit“. Alles, was nur ein wenig schräg oder unpraktisch wirkte (wie Live- Elektronik oder selbstgebaute Instrumente) wurde herausgefiltert. So wurde der Pluralismus der 80er von der Homogenisierung der 90er Jahre abgelöst. Eine ganze Generation von Komponisten (eigentlich MEINE Generation) wurde der Steigerung technischer Standards des instrumentalen Schreibens geopfert, ohne es zu merken, und manche der Opfer haben diese Selbstauflösung sogar als Erfolg wahrgenommen. Viele Komponisten, die für die folgende Generation Vorbilder waren (Bernhard Lang, Peter Ablinger oder Michael Beil), blieben zunächst im Schatten des Betriebs. Die Dekade endete dann mit dem Triumph jener Institutionen, die die nachfolgende Generation dann zehn Jahre später zu bekämpfen oder zu besetzen versuchte.

Es gab in Berlin damals aber auch eine Parallelwelt, die eine Katakombenexistenz führte, eine Musik, diein kleinen Clubs stattfand und nur einem Haufen Zuhörer zugänglich war, und eigentlich NUR schräg und unpraktisch war. Der Schweizer Komponist, spätere Konzeptkünstler Christophe Meierhans brachte mich zu den Konzerten der Echtzeitmusikszene und ich lernte dort Musiker wie Boris Baltschun, Kai Fagaschinski, Axel Dörner, Anette Krebs oder Andrea Neumann kennen, alles Musiker, die später u. a. das berühmte Splitter Orchester gründeten. Die Musik, die in den Clubs wie ausland, KuLe oder Raumschiff Zitrone vor etwa zehn Jahren erklang, war anders als in den „klassischen“ Konzerten neuer Musik. Ihr Vokabular löste sich von dem traditionellen komplett ab, ob- wohl es natürlich auch sofort seine eigenen Konventionen bildete. Was mich an dieser Underground-Musik faszinierte, war die magische Untrennbarkeit von Geste, Form und Zeiterlebnis. Und natürlich die Tatsache, dass die Form, die in der lebendigen Interaktion eines Musikers mit dem Computer entstehen kann, nicht weniger komplex ist als die eines komponierten Stücks. Ergebnis dieser Auseinandersetzung war auch die Erkenntnis, dass es wichtig ist, sich bei der Formulierung der kompositorischen Aufgaben vom Zwang der äußeren Bedingungen (z.B des Auftraggebers) zu lösen und über sein eigenes Vokabular nachzudenken.

Was danach kam, war die Synthese. Der große „Neue Musik-Mainstream“ lernte von der Clubszene (und damit meine ich nicht nur die Improvisationsszene). Durch die allgemeine Zugänglichkeit der Elektronik bastelte fast jeder Komponist seinen Apparat aus dem ihm vertrauten Mitteln zusammen. Schmutzige Heimelektronik-Klänge, von den Turntables und Computerspielen bis zu Haushaltsgeräten, alles was bisher nur in der Improvisationsszene üblich war, all das wurde von akademischen Komponisten aufgewertet und gehörte nun zum Standardvokabular der neuen Musik. Die Brüche und Distortions, Sampling von profanen Klängen wurden genauso „in”, wie vor- her die glatten und ablesbaren Formabläufe und die feine Instrumentation „in” war. Aus dieser Perspektive wurde eine wichtige Veränderung bemerkbar: Die Elektronik wurde immer mehr zum Mittel der Reflexion über das Musizieren, über den Werkbegriff und die Konzertsituation selbst. Der Rest wurde unterm Schlagwort „Digitalisierung der neuen Musik“ minuziös beschrieben und diskutiert. Die frühen Propheten dieser Digitalisierung wie Orm Finnendahl oder Michael Beil bekamen von der Geschichte Recht und wurden Hochschulprofessoren. Die anderen, die bereits in den 90er-Jahren erfolgreich waren, haben eine solche Professur oft gar nicht gebraucht, weil ihr Erfolg anhielt. Und es kam eine neue Generation von Komponisten, die nun wieder alles, was vorher da war, in Frage stellte.

So verliefen meine ersten zwanzig Jahren in Berlin. Ich war abwechselnd Studierender, Beobachter oder Akteur dieser endlos reichen und lebendigen Musikszene. Auch heute fühle ich mich immer noch als Studierender, nur lerne ich immer öfter bei den Jüngeren. Die wichtigste  Dimension dieser Art Ausbildung waren die persönlichen Begegnungen und Gespräche mit Komponisten und Musikern, wie sie mir nur diese Stadt schenken konnte.
 
Erstveröffentlichung: Programmheft des Festivals MaerzMusik. Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung der Berliner Festspiele.