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Erinnerung an etwas Verbotenes

Erinnerung an etwas Verbotenes

Einer der berühmtesten Mystiker der arabischen Welt inspiriert zeitgenössische Komponisten: der Sufi-Meister und Märtyrer Husain ibn Mansur Al-Hallağ. Für sein neues Chor-Orchesterwerk Mansur schöpfte Samir Odeh-Tamimi auch aus persönlichen Erlebnissen.

von Margarete Zander

Der Klang von Istanbul geht mir durch den Kopf, als ich mich auf das Gespräch mit Samir Odeh-Tamimi vorbereite. 2008 sollte der Komponist das Lebensgefühl der Stadt in Musik einfangen. Den Ruhepol im verwirrenden und sogar bedrohlichen Chaos im Stadtviertel Cihangir fand er in den Gebeten der Muezzin und in einem rätselhaften Bild des Malers Osman Hamdi Bey mit dem Titel Der Schildkrötenerzieher. Es durchfuhr ihn wie ein Blitz: Die seltsam demütigen Blicke der lauschenden Schildkröten auf ihren Koranmeister spiegelten sein ungläubiges Staunen und den Herzschlag Istanbuls. In seinem Werk Cihangir spürt man: Samir Odeh-Tamimi baut keine Brücken zwischen den Kulturen, er schafft eine emotionale Realität. Der Großvater des Komponisten, der 1970 in der Nähe von Tel Aviv geboren wurde, war ein bekannter arabischer Sufi-Heiler. Aus welchem Humus hat der Palästinenser, der seit über zwanzig Jahren in Deutschland lebt, sein neues Werk entwickelt?

Musik und bildende Kunst sind die Kräfte, die ihn geprägt haben. Als er ein Kind war, kam eine Blockflötenlehrerin in sein Dorf Jaljuliya, einen Ort mit 15.000 Einwohnern. Von anfangs 500 Schülern blieb einer, das war Samir Odeh-Tamimi. Für ihn war dies eine ganz wichtige Begegnung. Er liebt die Blockflöte bis heute. Aber egal, welches Instrument es damals gewesen wäre, er hätte sich in jedem Fall dafür begeistern können. 

Musik prägte schon in seiner Kindheit sein Lebensgefühl. Als ein Bandleader auf der Suche nach Lautsprechern bei seinen Eltern an die Tür klopfte, entdeckte er den Keyboard spielenden 14-Jährigen und war von dem, was er hörte, so begeistert, dass er ihn mit auf eine Tournee durch Israel nahm; man spielte palästinensische Volkslieder und populäre Songs großer arabischer Stars.

Mit fünfzehn entdeckte er Beethoven auf einer Schallplatte, dann Mozart und Schubert und Bach, und wusste: Er wollte Komponist werden. Er nahm Klavierunterricht bei einem russischen Pianisten, bestand aber die Aufnahmeprüfung an der Hochschule in Jerusalem nicht und ging nach Griechenland. Doch an der Wiege der westlichen Kultur fand er nicht die Musik, die er komponieren wollte. Da schrieb ihm ein Freund aus Kiel, er solle doch in das Land kommen, aus dem so viele Komponisten hervorgegangen seien. 

In Kiel studierte er Musikwissenschaft, lernte Deutsch, fand heraus, dass man auch Komposition studieren kann, und ging an die Musikhochschule Bremen zu Younghi Pagh-Paan. Die koreanische Komponistin begeisterte ihn nicht nur für Luigi Nono, Karlheinz Stockhausen und Giacinto Scelsi. Sie gab ihm den Rat, sich auch mit der Musik seiner Heimat, mit seinem Erbe zu beschäftigen. Durch ihre permanenten Impulse erkannte er, dass es ihm Musik und Kunst Zeit seines Lebens ermöglicht hatten, konfessionelle Grenzen zu überschreiten. So hatte er, als er noch in Israel lebte, mit großer Selbstverständlichkeit nicht nur Moscheen, sondern auch jüdische Synagogen besucht.

Ein prägender Klang seiner Kindheit ist die Stimme von Abdel Baset, dem berühmtesten Koran-Sänger der arabischen Welt. „Seiner Stimme, ob man Christ ist oder Jude oder Moslem, entkommt man nicht“, sagt Samir Odeh-Tamimi. „Er singt mit einer Intensität, die ich vorher nicht kannte. Er hat eine Countertenor-Stimme, und er presst die Töne mit der Dynamik eines dreifachen Forte, und das über Stunden. Mit einer Schönheit, die fesselnd ist. Er sang in der größten Moschee von Kairo, in diesem halligen Raum, mit einem Megaphon. Er hat mit seiner Stimme sehr viele Klangfarben geschaffen, die auf mich hypnotisierend wirkten.“ Die Faszination hatte Folgen. Samir Odeh-Tamimi übte sich selbst im Koran-Singen. „Jeden Mittwoch in der 8. Stunde hatten wir Koran-Unterricht, und ich durfte 45 Minuten lang Koran singen. Dabei habe ich Abdel Baset nachgeeifert.“

Der Inhalt seines neuen Stücks entwickelte sich aus einer Begegnung mit dem in Berlin lebenden tunesischen Schriftsteller Ali Mosbah, der als erster Bücher von Nietzsche ins Arabische übersetzte, Ecce homo und Also sprach Zarathustra. Zwischen den beiden wuchs eine sehr tiefe Freundschaft. Häufig drehten sich die Gespräche um Husain ibn Mansur Al-Hallağ. Samir Odeh-Tamimi hatte in der Schule schon viel von diesem berühmten persischen Sufi-Lehrer gehört, der im Jahr 922 grausam hingerichtet wurde, aber wirklich begegnet sei er ihm erst in diesen Gesprächen.

Samir Odeh-Tamimi betont, dass er nicht religiös motiviert sei. „Ich bin nicht religiös im konfessionellen Sinn. Diese Liebe zu Gott ist für mich etwas eher Fremdes! Aber ich bin ein spiritueller Mensch. Jeder von uns glaubt doch an irgendeine Schöpfung, an irgendeine Energie. Die Botschaft von Al-Hallağ sprengt den Rahmen einer konkreten Religionsgemeinschaft. Dass ein Mensch nur durch seine Erkenntnis existiert, und dass Gott etwas Undefinierbares bleibt, spielt in meinem neuen Stück eine ganz große Rolle.“

Die Lebensgeschichte und Philosophie von Al-Hallağ kennt in der arabischen Welt jedes Kind. In der westlichen Welt hat die Islam-Wissenschaftlerin Annemarie Schimmel sie bekannt gemacht. Sie schreibt: „Der Name Hallâdschs, sein Ausruf Anā l-Ḥaqq, ‚Ich bin die Absolute Wahrheit’, sein Tod am Galgen oder am Kreuz: immer wieder begegnen sie dem Wanderer, der sich mit islamischer Mystik befasst. Er ist zum Symbol geworden, seine Lehre wurde oftmals ins Pantheistische verbogen interpretiert, seine Gestalt ist heute wie vor mehr als tausend Jahren umstritten, aber in ihrer absoluten Hingabe und Leidenswilligkeit immer aufs Neue faszinierend.“ (Al-Hallâdsch, Märtyrer der Gottesliebe, Leben und Legende. Ausgewählt, übersetzt und eingeleitet von Annemarie Schimmel. Köln, 1968) 

Jedem, der das arabische Original nicht lesen kann, nötigt die Arbeit von Annemarie Schimmel ganz besonderen Respekt ab: „Der Text will laut und langsam gelesen sein und Wort für Wort meditiert werden“, sagt sie. „Die deutsche Fassung kann sein Wesen nicht zum Ausdruck bringen – wie sich denn überhaupt der Übersetzer kaum je so hilflos fühlt wie vor einem Text in gutem Arabisch, vor der einzigartigen Verbindung von Knappheit, Ausdrucksschärfe und Klangkraft, die der herrlichen Sprache eignet, wenn einer sie wirklich meistert.“

Samir Odeh-Tamimi meistert sie, erspürt ihre Klangpoesie. „Das ist ein Rhythmus, der aus der Sufi-Musik kommt. Ich fühle eine unglaubliche Faszination, die nicht nur aus seinen Worten kommt, sondern aus der ganzen musikalischen Welt, die dahinter steht.“

Diese Gesänge weckten bei ihm auch die Erinnerung an etwas Verbotenes. Die Familie war dagegen, dass irgendjemand in die geheimen Rituale der Sufi einbezogen wurde, die der Großvater pflegte. Aber Samir Odeh-Tamimi schlich sich als Kind, wann immer es ging, in die nächtlichen Gottesdienste der Sufi-Gemeinde, und es war für ihn das Größte, wenn der Großvater ihm ab und zu erlaubte, dabei die Trommel zu spielen. Er liebte die pulsierenden Rhythmen, das Murmeln der Texte, die Art der Sufis, Verse aus dem Koran zu zitieren und dazu ihre eigenen Texte zu sprechen, die Art, sich in den Rhythmus der Worte hineinzusteigern. Es faszinierte und ängstigte ihn gleichermaßen, wenn er erlebte, wie die Menschen völlig in diesen rhythmischen Schwingungen aufgingen und dabei in höchste Ekstase gerieten, bis zur Erschöpfung. 

Das gemeinsame Gebet, bei dem die Sufis im Kreis gingen, mündete nach Stunden in den monotonen, ekstatischen Sprechgesang, bis sie in einen Trancezustand gerieten. Mit letzter Kraft hauchten sie zum Schluss eine einzige Silbe: hu, das bedeutet Er – Gott. Am Ende seines neuen Stücks hat Samir Odeh-Tamimi dieses Erlebnis gestaltet. In den letzten Minuten soll sich der Chor durch Repetition in eine Art Trance singen. Der Höhepunkt ist das absolute Sichfallenlassen. „Auch dieses letzte hu wollte Al-Hallağ auflösen,“ erklärt Samir Odeh-Tamimi, „so dass nur die Erkenntnis bleibt.“


Quelle: Salzburger Festspiel-Almanach 2014. Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung der Salburger Festspiele
www.salzburgerfestspiele.at