Komponisten über Komponisten
Auf unserem Blog stellen unsere Komponisten regelmäßig ihre Lieblingswerke aus unserem Katalog vor. Dieses Mal: Hubert Stuppner schreibt über Inverno-in ver von Niccolò Castiglioni .
Niccolò Castiglioni: Inverno-in ver
Wenn man mich fragen würde, welche Werke ich im Falle einer Sintflut mit in die Arche nehmen würde, würde ich von den drei Werken zeitgenössischer Musik, die mich am meisten berühren, Castiglionis Inverno in ver., Messiaens Turangalila-Symphonie und Goreckis 2. Symphonie nennen.
Inverno in-ver ist das Werk des naivsten und unschuldigsten Komponisten der zeitgenössischen Musik, Vertreter einer Arte povera, die bewusst auf Pomp und Prunk verzichtet, mit den Vögeln spricht und wie der Heilige Franziskus ein Leben in musikalischer Einfachheit und Genügsamkeit predigt. Ein Werk, das alles irdisch Klingende in geläuterter Form wie einen mittelalterlichen Liebesgarten als Abbild des Himmlischen Lebens in den buntesten Farben malt.
Castiglioni ist Messiaens seraphischer Bruder im Geiste, der italienische Fra Angelico, der allen Tönen in der perfekten Mixtur von konsonant und dissonant den hell glänzenden Heiligenschein anmalt, so als sähe er Engel, die in den höchsten Tönen singen. Tatsächlich komponiert Castiglioni nur in hohen und höchsten Frequenzen: Flageolette, Glockenspiele, Celesten, Glocken und Glöckchen aller Art. Castiglionis Domäne ist das Helle, das Licht, der Glanz. „L’aigu“, würde Messiaen sagen. Nicht zufällig hat ihn Messiaen als den interessantesten italienischen Komponisten seiner Generation bezeichnet.
Diese extrem diskantische Musik, die mit Tönen Eisblumen malt, gefrorene Dreiklänge mit Reif überzieht und Flageolette wie Schneeflocken durch die Luft wirbeln lässt, ist eine Art Winterreise, in der die „gefrorenen Blumen“, auf Schuberts Getrocknete Blumen verweisend, auch etwas Doppelbödiges ausdrücken. Mir fällt zu diesem Stück immer wieder Mahlers Vers aus dem Lied von der Erde ein: „Du, mein Freund, Mir war auf dieser Welt das Glück nicht hold!“
Inverno in-ver ist das Werk eines Komponisten, der sich in dieser Welt nicht zurechtfand, der an ihrer Kälte zerbrach und diese Kälte durch musikalisch gemalte „Eisblumen“ zum Ausdruck brachte.
Die letzten Monate seines Lebens verbrachte Castiglioni an einem stillen Ort in Südtirol, in Brixen, wo er Visionen hatte: er sah immer wieder gespenstische Luftballons am Firmament und ängstigte sich sehr.
„Auch das Schöne muss sterben, das Menschen und Götter bezwinget.“ (Schiller)