Die Ekstase des Kunstschaffens
Liza Lim im Gespräch mit dem Ensemble Musikfabrik über Komponieren, Parallelwelten und Flugverspätungen.
Ensemble Musikfabrik: Träume scheinen in manchen deiner Stücke eine zentrale Rolle zu spielen. Sind Träume eine wichtige Inspirationsquelle für dich?
Liza Lim: Der Gebrauch des Wortes „Träume“ ist ziemlich interessant. Es gibt viele Philosophien, die das Konzept einer Traumwelt parallel zur gewöhnlichen Realität nutzen: die Traumwelt kann genauso real sein. Man kann in Träumen mit genau der gleichen Lebendigkeit und dem gleichen Verstand agieren wie im gewöhnlichen Leben. Dieses Konzept von parallelen oder alternativen, nicht gewöhnlichen Realitäten interessiert mich eher, als die Vorstellung von Traum als etwas Passives. Die Idee der „Dreamtime“ in Kulturen der Aborigines zum Beispiel ist nichts Vages, sondern eine absolut gegenwärtige, gleichzeitige, aktivierte, kreative Form der Gegenwart, in der man Wissen finden und kreativ handeln kann.
Ist das ein Zustand, den du persönlich bewusst herbeiführst – ist es etwas, das du planst? „Jetzt werde ich diese Welt betreten…“
Nein. Es ist kein formeller Prozess. Ich denke, es ist die Vorstellung von parallelen Strukturen von Kreativität und Bewusstsein, die mich wirklich fasziniert.
Zum Beispiel The Green Lion eats the Sun, das Stück für Doppeltrichtereuphonium, das ich für Melvyn Poore geschrieben habe, handelt von diesen zwei Seiten des Bewusstseins, die auf sehr simple Weise von den zwei Schalltrichtern repräsentiert werden. Das Öffnen und Schließen der Trichter ermöglicht den Zugang zur einen oder anderen Seite, aber in einer sonderbaren Umkehrung: die sogenannte unbewusste Seite ist viel bunter, aktiver, dynamischer als die sogenannte Bewusste.
Es existiert eine Kluft: Wenn wir uns auf der einen Seite befinden, können wir nicht erfassen, was auf der anderen Seite ist. Und nur wenn wir die Perspektive, oder, wie im Fall des Stückes, durch das Öffnen des Trichters die Position verändern, können wir es tatsächlich wahrnehmen. Das war eine der wirklich einfachen kompositorischen Ideen, die ich zum Umschalten zwischen den beiden Seiten des Instruments hatte.
Hilft dir Komponieren, hilft dir Musik beim Prozess, zwischen den verschiedenen Bewusstseinszuständen zu wechseln?
Ja, das tut es – definitiv! Denn Komponieren und Musizieren heißt eigentlich, mit einer aktivierten Form des Bewusstseins in Verbindung zu stehen, die normalerweise kein Teil gewöhnlicher Arbeitsabläufe ist.
Das habe ich sehr stark erlebt, als ich das Stück für Melvyn geschrieben habe. Anfangs fand ich es sehr schwer für das Doppeltrichtereuphonium zu schreiben. Wie sollte man dieses Instrument, das kein großes Repertoire hat, beleben? Es gibt keinen ausgetretenen Pfad, was das Solorepertoire oder irgendeine etablierte Virtuosität betrifft. Ich habe wirklich gekämpft. Ich verspätete mich mehr und mehr, weil ich es schwer fand mit dem Instrument zu arbeiten.
Dann habe ich vor kurzem tatsächlich angefangen das Stück zu schreiben, als ich auf dem Bostoner Flughafen sieben Stunden Verspätung hatte. Man könnte meinen, dass dies der am wenigsten erfolgsversprechende Ort ist, sich aufs Komponieren einzulassen! Aber aus irgendeinem Grund war ich so fokussiert, so bereit, die Hand auszustrecken und dieses Stück aufzulesen, dass ich gleich die Hälfte dieses Stücks auf dem Bostoner Flughafen schrieb. Umgeben von dieser Schicht aus Lärm und frustrierten Passagieren kam ich in solch einen fokussierten Geistes- und Daseinszustand. Nichts konnte mich stören. Nichts konnte mich berühren.
Das ist die Ekstase des Kunstschaffens. Die Musik macht dich und du machst die Musik. Das Wunder, nach dem man strebt, das man aber nicht unbedingt erreicht. Das war wirklich aufregend! Viele Gedanken, die ich vorher hatte, kamen einfach zusammen, Gedanken, mit denen ich mich in den letzten, sagen wir, zwei Jahren auseinandergesetzt habe.
Und dann war es, als hätte ich Zugang zu einem anderen Zustand bekommen, einer anderen Welt, und wäre in der Lage, sie zu berühren und anzufassen. Das ist eine der Ausgangsideen zu meinem Stück Songs found in Dream (2005) – die Idee australischer Aborigines, dass Lieder Dinge sind, nach denen du in diesem anderen Daseinszustand „jagst“.
Das andere Solostück Axis Mundi, das du für Ensemble musikFabrik komponiert hast, ist für Fagott geschrieben, das auch nicht so oft in zeitgenössischer Musik Verwendung findet. Es scheint ein Instrument zu sein, das immer noch erkundet werden muss.
Das war ebenfalls ein aufregendes Projekt, und es war ein bisschen anders. Dieser Schreibprozess fand in großem Maße statt, während ich mit Alban Wesly in Kontakt war, um spezielle Techniken zu erforschen, zu erkunden, wie das Fagott hinsichtlich der Organisation von Farben und Fingersätzen gesteuert werden kann. Ich denke, eines der Ergebnisse, mit denen man konfrontiert wird, wenn man diese instrumentalen Erkundungen macht, ist, dass man eine Menge an Techniken und Effekten freilegen kann. Und dann muss man fragen: Was bedeutet das alles? Geht es über eine Art Neuheits-Faktor hinaus? Alban zeigte als Interpret den Weg, indem er inmitten dieser verschiedenen multiphonischen Klänge mithilfe eines sehr praktischen Fingersatzsystems navigierte, das die Grundlage dieser Arbeit wurde.
Dein erstes Zusammentreffen mit dem Ensemble musikFabrik war 2008 als wir das Stück gespielt haben, das du vorhin erwähnt hast: Songs found in Dream.
Ja, als ihr ein pädagogisches Projekt gemacht habt: die Kinder konnten ihre eigenes Verständnis und ihre Interpretation dessen ausdrücken, was es bedeuten könnte, durch eine Landschaft zu reisen. Sie malten Bilder, die wie Landkarten aussahen und nahmen Umweltgeräusche auf, die in einen animierten Film mündeten. Das war sehr inspirierend.
Was mich an der Arbeit des Ensembles fasziniert, ist die Art wie ihr immer etwas zu euren Aktivitäten hinzufügt. Es ist nicht nur das Konzert… es gibt immer etwas, das sich um das Vermitteln in einen größeren Kontext dreht. Durch spezielle pädagogische Projekte, aber nicht nur das – es ist die ganze Bandbreite der Arbeit. Ihr erkundet immer neue Formate und denkt euch Wege aus, sie zu kommunizieren.
Und jetzt geht die Arbeit mit dem Ensemble weiter… Ich bin sehr glücklich über die bevorstehende Zusammenarbeit mit der Kölner Oper und Hellerau – Europäisches Zentrum der Künste Dresden: Tree of Codes, eine Oper basierend auf einem Roman von Jonathan Safran Foer. Möchtest du uns eine kurze Vorschau geben?
Ich möchte lieber nicht zu viel verraten, aber es hat mit einigen Dingen zu tun, über die wir gesprochen haben: den parallelen Welten und dem Gefühl für die zusammenbrechenden Grenzen zwischen diesen Welten. Das ist ein sehr starkes Motiv am Anfang der Oper: die Grenzen zwischen Menschen, Tieren, Natur, Maschinen lösen sich auf.
Für dich, die du die Musik für die Oper geschrieben hast: Wie wesentlich ist die Verbindung zum Ensemble? Ist sie wichtig für dich als Komponistin?
Sie ist sehr wichtig. Wir hatten bereits einen Workshop, wo wir die Möglichkeit hatten, Dinge auszuprobieren, Ideen, die zu dieser Zeit sehr ungeformt waren. Dieses Material findet nun seinen Weg in die Oper. Die Charaktere der Musiker und ihre Beziehung zu ihrem Instrument – sie alle bevölkern die Oper. Ich stelle mir die Oper auf eine ganze konkrete Weise vor. Ich denke nicht: „Hier ist die Trompetenstimme.“ Ich denke: „Du wirst diese Trompetenstimme spielen“ - deine Kompetenz dich zu bewegen und etwas zu spielen wie die Doppeltrichtertrompete kennend... Ich versuche etwas für die ganzheitliche Kompetenz und Persönlichkeit der Musiker zu komponieren.
Termine:
1.10.2014, Festival Musica Strasbourg
Tree of Codes wird Anfang 2016 an der Oper Köln uraufgeführt.
Das Gespräch führten Marco Blaauw und Mareike Winter. Übersetzung aus dem Englischen: Hannah Naumann. Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung von Ensemble Musikfabrik. http://musikfabrik.eu
Photo: Klaus Rudolph