Klaus Huber, 1924 in der Schweiz geboren, ist in der Musikwelt einer der letzten Zeitzeugen der Nachkriegsgeneration. Er war ein „Spätzünder“, wie er selbst sagt. Seit Ende der 1950er Jahre werden seine Werke erfolgreich von exzellenten Musikern aufgeführt. Wenngleich er kein Meinungsführer war wie Stockhausen, Boulez, Nono oder Cage, so sind Hubers Schriften nichtdestotrotz umfangreich, geistreich und nicht selten scharfzüngig. Als Kompositionsprofessor in Basel und Freiburg wurde er zu einem der einflussreichsten Lehrer der letzten 50 Jahre, zu seinen Schülern zählten so unterschiedliche Komponisten wie Febel, Ferneyhough, Hosokawa, Jarrell, Lauck, Pagh-Paan, Platz, Rihm, Saariaho oder Wüthrich.
Reflexionen gesellschaftlicher Verhältnisse
Mit dem Kompositionsbeginn seines abendfüllenden Oratoriums Erniedrigt…geknechtet…verlassen…verachtet… (1975/78-83) wechselt er zu Ricordi, dem Verlag der Linksintellektuellen Italiens. Nach langer Kompositionszeit wird die Uraufführung 1983 in Donaueschingen zu einem Höhepunkt seines Wirkens. Die Musik traf genau den Nerv der Friedensbewegung: ästhetisch überwältigend mit Orchester, Chor und Film, gepaart mit der von Huber zum Ausdruck gebrachten scharfen Kritik an den menschenverachtenden politischen Zuständen in Nicaragua. Viele hatten Huber bis dahin unterschätzt. Die lateinischen Werktitel, sein häufiger Bezug auf spirituelle, biblische Themen, das betonte Interesse an Alter Musik mit deren kontrapunktischen und isorhythmischen Techniken schienen manchem antiquiert und weltfremd. Zu Unrecht. Rückblickend muss man wohl eher sagen, dass er sich mit seiner Musik konsequent aus kompositorischen Moden herausgehalten hat, nicht jedoch aus der geistesgeschichtlichen Aktualität, die in seiner Musik künstlerisch und inhaltlich reflektiert wird.
Tod Nonos und Zweiter Golfkrieg
Hubers Spätwerk ist bemerkenswert neuartig und deutet sich für die Öffentlichkeit erstmals mit der Uraufführung des dritteltönigen Streichtrios Des Dichters Pflug (1989) in Witten an. Kurz darauf wird Huber als Professor emeritiert und sein Freund Luigi Nono stirbt; in ihrem letzten Gespräch hatte ihm Huber bezeichnenderweise ein Buch über Sufismus geliehen. Der Zweite Golfkrieg beginnt zur selben Zeit und führt nicht nur in Deutschland zu großen Friedensdemonstrationen. Diesem Nährboden ist das Spätwerk entwachsen. Im Andenken an Nono schrieb Huber …Plainte… für Viola d’amore (1990). Das Stück hat sich in seinem Spätwerk durch unzählige Bezugnahmen und Bearbeitungen zu einem roten Faden entwickelt, zu einer Art Selbstportrait mit Nono und Mandelstam, dem 1938 in einem russischen Gulag zu Tode gekommenen Dichter. Auf dem Sprachrhythmus eines seiner Gedichte basiert die Rhythmik von …Plainte….
Varianten und Vernetzungen
Hubers Spätwerk ist untergründig engmaschig vernetzt. Das Solostück …Plainte… ist zeitgleich auch eine von 17 solistischen Schichten (neben Chor und zwei Ensembles) der monumentalen und ebenfalls Nono gewidmeten Raumkomposition Die umgepflügte Zeit (1990). Nach dem Vorbild Nonos wandern die Musiker während der Aufführung durch den Raum. Wie so oft gibt es auch von diesem großen Stück Reduktionen. Immer wieder haben seine Kompositionen derartige Variantenbildungen erlebt, so dass sie in unterschiedlichen Besetzungen und Varianten zur Aufführung gelangen können. Überlagerte, in sich eigenständige Schichten gab es auch schon zuvor, etwa im Orchesterstück Protuberanzen, das drei Sätze enthält, die ganz „zeitsparend“ auch gleichzeitig gespielt werden können – ein bissiger Seitenhieb auf die erwünschte Häppchenkultur von Konzertveranstaltern, denn wer geht schon ins Konzert, um Zeit zu sparen?
Mozart – Mandelstam – Nono
Eine wichtige Rekomposition der …Plainte… steht im Zentrum des Streichquintetts Ecce Homines (1998): überlagert durch Fragmente aus W.A. Mozarts g-Moll Streichquintett – idealtypisch vorgestellt in mitteltöniger Stimmung – erklingt das Stück dort uminstrumentiert und durch einen Umkehrungskanon ergänzt. Das Quintett Ecce Homines ist eine Art Modell für seine große, das Spätwerk zusammenfassende Mandelstam-Oper Schwarzerde. An einem zentralen Punkt wandern dort sieben Instrumentalisten durch das Publikum und spielen die …Plainte… als Kanon. Mozart, Mandelstam, Nono – das sind für Huber Felsen in der Brandung der Zeit, Künstler im Sinne einer Ästhetik des Widerstands, Menschen, die ihren Idealen folgten.
Tonräume – Menschenräume
Was Huber mit Nono verbindet ist nicht nur sein Interesse für den Aufführungsraum, sondern auch den Tonraum. Von seinen ersten Kompositionen an stellt Huber Tonräume kontrastierend einander gegenüber: zunächst sind es diatonischer Choral und chromatische Zwölftönigkeit, seit den 1960er Jahren Halb- und Vierteltönigkeit, und im Spätwerk begegnen sich besonders häufig dritteltönige und arabisch-vierteltönige Tonräume. In seiner Musik zeigt sich das Staunen über die so andersartige, reichhaltige arabische Musiktradition mit ihren hunderten von Tonhöhenskalen und additiv zusammengesetzten Rhythmen, die länge Zyklen bilden als es für westlich tradierte Musik vorstellbar wäre. Huber lenkt damit die Aufmerksamkeit auf die Menschen, deren Kultur seit den 1990er Jahren immer wieder feindlich beäugt, bombardiert und deren Museen zur Plünderung freigegeben wurden.
Das Unabgegoltene im Vergangenen
Hubers Spätwerk ist von Grund auf mikrotonal, wenn man die Abweichung von der gewohnt halbtönigen Musikwelt als definitiorischen Maßstab ansetzt. Huber missfällt aber diese Bezeichnung, da er sich auf tradierte und historische Tonsysteme bezieht. Die traditionelle Chromatik – für Huber im Spätwerk Sinnbild imperialistischer Gewalt – bleibt fast gänzlich außen vor oder findet nur selten Anwendung, etwa im „Marsch der Dienstbefliessenen“ in seiner Oper Schwarzerde. Hubers Vater war Musikwissenschaftler, und so verwundert es nicht, dass er ein besonderes Interesse für Alte Musik hegt und am „Unabgegoltenen im Vergangenen“. Gerade im Spätwerk komponiert er für „vergessene“ Instrumente wie die Viola d’amore (eine Art siebensaitige Viola), das Baryton (ähnlich dem Cello) oder für Countertenor. Auch wenn es aus dem Notenbild nicht direkt ersichtlich ist: Die im 16. Jahrhundert auf 19 Tonstufen erweiterte mitteltönige Stimmung mit reinen Terzen prägen viele seiner Kompositionen im Spätwerk, etwa seine Lamentationes Sacrae et Profanae ad Responsoria Iesualdi (1993/1996-97). Während der Proben reiste er mit den Musikern zu einem Museum für Tasteninstrumente, um mit der Unterstützung eines Vicentino-Cembalos die ungewohnten Intervallverhältnisse zu proben.
Das Erbe weitertragen – aber anders
Trotz aller Referenzen auf die Tradition ist Hubers Musik keineswegs imitierend oder nostalgisch. Symbolhafte Anknüpfungspunkte und klangsinnliche Erkenntnisse entwickelt er stets weiter. Er scheint auf der Suche nach einem metaharmonischen Tonraum zu sein, einer Aura jenseits der konkreten musikalischen Grammatik der historischen Modelle. So entstehen neue Ideen mit Allusionen, etwa wenn er in seinen Lamentationes de fine vicesimi saeculi (1991-94/95/2007) das typisch europäische Orchester als vermeintlich entindividualisierte Masse in vier Kammerorchester zerlegt, die polytonal wie bei seinem Vorbild Strawinsky in transponiert zueinander stehenden arabischen maqam-Tonräumen musizieren. Das Ergebnis ist eine Meta-Kammermusik mit vielfältigen instrumentalen Farben. Den Geist Luigi Nonos solle man weitertragen, hatte Klaus Huber 1990 gefordert. Er hat es getan und damit kreativ zu ganz eigenen, neuen Wegen gefunden. Wir gratulieren ihm und wünschen zum 90. Geburtstag alles Gute!
Text: Till Knipper