Sergej Newski, wie klingt für Sie Weihnachten?
Im November 2014 befragte die GEMA für ihr Mitgliedermagazin Virtuos ausgewählte Musiker zu ihren Kindheitserinnerungen an Weihnachten. Hier ist die Antwort von Sergej Newski.
„Im Moskau meiner Kindheit war Weihnachten säkularisiert, die ganzen Feierlichkeiten (samt Christbaum, Weihnachtsmann und Geschenke) wurden auf Silvester übertragen. Es gab also keine Musik, die zu Weihnachten gehörte. Gleichzeitig war das europäische Weihnachten als Idee vertreten durch die dazu gehörende Kunstmusik.
Als Kinder und Jugendliche hörten und kannten wir sowohl die Сantate de Noel von Honneger als auch Carols von Britten – und natürlich die sechs Kantaten des Weihnachtsoratoriums von Johann Sebastian Bach. Die russische Tradition der Weihnachtslieder war weniger spürbar, dagegen kannten wir einige Kolyadki (die osteuropäischen Carols) aus der ukrainischen oder nordrussischen Tradition, wo die Weihnachtsbräuche länger erhalten geblieben sind. Aber generell bedeutete Weihnachten zu feiern oder diese Musik überhaupt zu hören im spätsozialistischen Russland nicht anderes als: ein Teil der europäischen Kultur zu sein (auch wenn diese Gleichsetzung heute naiv erscheinen mag), und wir wussten alle, dass der beste russische Dichter Joseph Brodsky bei sich zu Hause in New York jedes Jahr ein Weihnachtsgedicht schreibt.
Als ich fünfzehn war kaufte ich mir eine Platte (ETERNA, natürlich) mit deutschen Weihnachtsliedern, gesungen vom Kreuzchor Dresden – was ich in Deutschland wahrscheinlich niemals tun würde. Ich erinnere mich daran, dass mir eine Bearbeitung des Advents-Kyrie Maria durch ein‘ Dornwald ging von Günther Raphael besonders unter die Haut ging.
Drei Jahre später, bereits in Dresden wohnend, fand ich natürlich heraus, dass die Idee von Weihnachten oft romantischer erscheint als die Realität von Weihnachten in einer Großstadt. Ich lernte das Wort WEIHNACHTSSTRESS kennen, das seitdem zu meinen Top 10-Lieblingswörtern der deutschen Sprache gehört (neben „Versöhnungssex“ und „Christbaumständer“).
Als ich die feierlich gekleideten Kruzianer in der Einkaufspassage in der Prager Straße gesehen habe, die Praetorius und Schütz vor dem hektischen Publikum singen mussten, hatte ich ein seltsames Gefühl, auch wenn die Musik wunderschön war. Ich verstand so, dass sich Weihnachten als Gefühl, wie jedes andere Gefühl, schwer lokalisieren lässt, und dass es gleichzeitig überall und in jeder Musik sich öffnen kann. Wie der Geist, der überall atmet.“
Sergej Newski
Quelle: Virtuos 12/2014. Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung der GEMA.