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Komponisten über Komponisten

Komponisten über Komponisten

Auf unserem Blog stellen unsere Komponisten regelmäßig ihre Lieblingswerke aus unserem Katalog vor. Dieses Mal: Reinhard Febel schreibt über Quatre chants pour franchir le seuil von Gérard Grisey.

"Gérard Grisey kannte ich gut. Vor langer, langer Zeit, als ich noch an die segensreichen Wirkungen der Elektronik glaubte und am IRCAM einen Kurs machte, teilte man sich, zusammen mit Gérard Zinsstag, einem hervorragenden Schweizer Komponisten und Freund, die Kosten einer Wohnung nahe der Bastille. Eine ähnliche Konstellation wiederholte sich Jahre später, als ich oft Zeit in Zinsstags Berghaus in Graubünden verbrachte, so wie auch Gérard Grisey, jener allerdings öfter und regelmäßiger als ich. Wie geschaffen war die Hütte zum Arbeiten. Zimmer gab es genug. Dort begegnete ich Gérard auch zum letzten Mal. Ich sehe ihn noch zum Frühstück heruntersteigen oder zum Abendessen nach dem Komponieren.

Meine Bewunderung für ihn lässt sich so zusammenfassen: er wusste, was er tat. War ich nach der Arbeit unruhig und voller Zweifel, so konnte er das Getane ohne Schwierigkeiten zur Seite legen, es eine Weile ruhen lassen bis zum nächsten Schreibtischbesuch und er selbst sein, voller Genuss. Ich glaube, dass er ein großes Geheimnis entdeckt hatte – oder war es ihm zugefallen? –, dasjenige nämlich des richtigen Tempos, was auch bedeutet: Geduld und Vertrauen.

Er arbeitete, wie ich mich erinnere, langsam. So gab er sich stets genügend Zeit für den richtigen Griff in die Kiste unendlicher Möglichkeiten. Das bewundere ich an seinen Werken: die Entscheidungen darin stimmen.

Früh erkannte er, dass die gängige Obertonkomposition schon beim Start ihr Ziel erreicht hatte und dass komplexere Vorgehensweisen notwendig waren – ja, sogar auf der Hand lagen –, am faszinierendsten lässt sich dies in dem wunderbaren Zyklus Quatre chants pour franchir le seuil beobachten – ein Werk von unvergleichlicher Schönheit, womit nicht nur Wohlklang gemeint ist, denn dieses Extra ist ja in der Spektralmusik sozusagen fest verbaut.

Die Quatre chants gehen tiefer, tiefer in die Katakomben des Klanges hinein, zum Beispiel, wenn die Sopranistin zögernd die Aufschriften auf alten Sarkophagen zu entziffern versucht. Welche Gesangsform kann dies wiedergeben? Und welche das Herannahen des Tsunami in Gilgameschs Sintfluterzählung? Und das transzeitliche Wiegenlied, die vierte und letzte Schwelle?

All das ist bei Grisey stimmig und zugleich unbegreiflich einfach. Die Analyse hingegen  – immer wieder versuche ich sie mit meinen Studenten – ist es nicht, ich denke, hauptsächlich deswegen, weil sich konstruierte und empirisch gefundene Spektren stets unvorhersehbar mischen, und weil – glücklicherweise – der tiefere, durbetonte Spektralbereich kaum gegenwärtig ist. Von der mysteriösen Beziehung des Werkes zu seinem Schöpfer will ich nicht reden. Gérards eigener Übertritt über die Schwelle war früh und unerwartet.

Aber von der Zukunft: auch in neuerer Musik gibt es ab und zu Werke, die bleiben werden – und auch deren Komponisten –, nachdem die Musikgeschichte ihr Sortierungswerk getan hat."

Reinhard Febel, 11.12.14