Aus unserem Repertoire: Rachmaninows „Der Fels“
Auf unserem Blog stellen wir regelmäßig verborgene Schätze unseres Katalogs vor. Diese Mal: Der Fels von Sergei Rachmaninow.
Die Orchesterfantasie Der Fels von Sergei Rachmaninow aus dem Jahr 1893 bezieht sich auf zwei literarische Quellen: das Gedicht Der Felsen des russischen Romantikers Michail Lermontow (1814-1841) und die Erzählung Auf dem Weg von Anton Tschechow. Rachmaninow stellte dem Notentext die ersten Zeilen des Gedichtes voran: „Schlief ein kleines gold‘nes Wölkchen unter Sternen / an des Felsenriesens Brust geborgen“.
Sowohl das Gedicht als auch die Erzählung behandeln dasselbe Thema: das Aufeinandertreffen einer jungen, fröhlichen, lebendigen Frau und eines alten, traurigen, lebensmüden Mannes. Das Gedicht beschreibt diese Begegnung auf abstrakte und symbolische Weise, die Erzählung konkret und realistisch.
In Lermontows Gedicht trifft ein Wölkchen auf einen großen Felsen. Das goldene Wölkchen steht für die lebhafte, elanvolle und rastlose junge Frau. Der kalte und regungslose, mächtige Felsen hingegen symbolisiert den vom Leben enttäuschten und unzufriedenen Mann. Das Wölkchen stößt am Abend auf eine höher gelegene Klippe des Felsens, verfängt sich in dieser und verweilt über Nacht „an des Felsenriesens Brust geborgen“. Am nächsten Morgen zieht es weiter und lässt den Felsen allein und verbittert zurück.
In Tschechows Auf dem Weg begegnen sich zwei Reisende, die wegen eines Sturms gezwungen sind, sich in einem Gasthaus niederzulassen um das Ende des Unwetters abzuwarten. Genau wie im Gedicht erscheint die junge Frau sehr lebhaft und voller Tatendrang, während der ältere Mann hingegen unzufrieden und deprimiert dargestellt wird. Er vertraut sein Leid der jungen Fremden an, die sogleich Mitleid empfindet. Doch sobald der Sturm vergangen ist, zieht die Frau weiter und lässt den bedauernswerten Mann allein zurück.
Diese Begegnung vertont Rachmaninow in seiner 16-minütigen Orchesterfantasie Der Fels im traditionellen, russischen Stil. Tiefe Streicherklänge malen zu Beginn das Bild einer verlassenen und grauen Felsenschlucht und erzeugen eine bedrohliche Atmosphäre. Dieses Thema steht für den verbitterten Mann. Nach nur wenigen Takten erscheint in der Flöte das lebhafte und unbeschwerte Thema der Frau.
Im Verlauf des Stückes entwickelt sich ein auf vielfältige Weise gestalteter Dialog zwischen den beiden Themen. Ruhige und hektische Passagen wechseln einander ab, auf langsame Cello-Partien voller Wehleidigkeit folgen aufmunternde, tröstende und heitere Läufe in den oberen Registern. Der Moment, als feststeht, dass sich die Wege der beiden trennen, ist in der Musik als deutlicher Einschnitt zu hören. Die tiefen Streicherklänge vom Beginn kehren wieder und verwandeln sich in einen Trauermarsch, unterstrichen von markanten Blechbläserklängen. Dadurch entsteht eine dramatische und spannungsvolle Stimmung, große Dynamikkontraste auf engem Raum verdeutlichen zusätzlich die Verzweiflung des Zurückgelassenen.
Als Rachmaninow im Herbst 1893 Auszüge aus Der Fels am Klavier vortrug, befand sich auch Tschaikowsky unter den Zuhörern. Er war von dem Werk des damals erst 20jährigen Komponisten so sehr beeindruckt, dass er sich sofort bereiterklärte, die Orchesterversion selbst zu dirigieren, was durch seinen plötzlichen Tod jedoch verhindert wurde. Die Uraufführung fand schließlich 1894 in Moskau unter der Leitung von Vasili Safanow statt.
Text: Ina Heimann
Der Fels (1893)
Fantasie nach einer Poesie von Lermontow op. 7
Picc.2.2.2.2.-4.2.3.1.,Pk, Schlzg, Hrf, Str
Dauer: 16'