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Komponisten über Komponisten

Komponisten über Komponisten

Auf unserem Blog stellen unsere Komponisten regelmäßig ihre Lieblingswerke aus unserem Katalog vor. Dieses Mal: Samir Odeh-Tamimi schreibt über das vierte Streichquartett von Giacinto Scelsi.

Jede Note ist eine Welt, jeder Klang ist ein Kosmos
"Ich war im ersten oder im zweiten Semester meines Kompostionsstudiums an der Hochschule für Künste Bremen als mich ein Kommilitone fragte, ob ich den Komponisten Giacinto Scelsi kenne. Ich muss gestehen, dass ich bis zu diesem Zeitpunkt weder seinen Namen noch seine Musik gehört hatte. Er machte seine Handtasche auf, zog eine Partitur daraus und legte sie auf den Tisch. Es war das Streichquartett Nr. 4 von Giacinto Scelsi.

Schon nach dem Betrachten der ersten Seiten wurde mir klar, dass ich es hier mit Musik zu tun habe, die mich lange beschäftigen wird. Wir hörten das Stück gemeinsam, und ich verlor schon nach kurzer Zeit die Orientierung. Mir fiel es nicht leicht, mich beim Hören auf das Lesen der Partitur zu konzentrieren. Mir wurde kochend heiß, ich war fasziniert, verwundert, irritiert – und total begeistert.

Mir stellten sich einige Fragen, vor allem: Wie hat es Scelsi geschafft, mit nur vier Streichinstrumenten eine so differenzierte Farbpalette zu erschaffen? Wie ist es ihm gelungen, vier Instrumente wie ein großes Orchester klingen zu lassen?

Später lernte ich viele weitere Werke Scelsis kennen. Meine Begeisterung und Bewunderung für diesen Komponisten, der seinen Weg unbeirrt und mit ungeheurer Radikalität bestritten hat, nahm von Jahr zu Jahr zu.

Seine Musik erschüttert und fasziniert mich gleichermaßen. Ihre Durchdringungskraft, Direktheit und ungeheure Intensität, ihre Beharrlichkeit, Kraft aber auch Klarheit und ungewöhnliche Schönheit, die alles, was still steht und nicht zu atmen scheint, zum Vibrieren bringt und es ins Leben wieder zurückholt.

Er war ein Meister der Einfachheit, aber diese Einfachheit wurde im Laufe der Zeit immer größer, breiter und farbiger. Manchmal wachsen die Klänge sogar bis an den Rand der Bedrohlichkeit. Scelsi schreibt sogar zu achten und neunten Klaviersuite aus den Jahren 1952 und 1953, man solle diese Musik weder spielen noch hören, wenn man psychisch nicht ausgeglichen ist.

Er sagte einmal, Kunst müsse einfach sein. Dieser Satz beschäftigte mich lange, und ich verstand eines Tages, was Scelsi vielleicht gemeint haben könnte: nämlich, dass Kunst einfach in ihrer Beschaffenheit sein muss, aber zugleich eine große spirituelle und geistigerTiefe haben sollte. Scelsis Musik ist einfach und doch klanglich und geistig hochkomplex. Ihre Tiefe ergibt sich durch hohe Konzentration, durch spirituelle und geistige Kraft. Scelsis mystisch-philosophische Weltanschauung und Musikdenken sind für mich ein wichtiger Wegbegleiter geworden."
Samir Odeh-Tamimi