Poppe: "Ich kann mich an nichts erinnern"
Im Mai wird Enno Poppes neues Orchesterwerk Ich kann mich an nichts erinnern in München vom
Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks unter Matthias Pintscheruraufgeführt. Außerdem spielt das BBC Scottish Symphony Orchestra unter Ilan Volkov die britische Erstaufführung von Altbau.
Ich kann mich an nichts erinnern • [2005-15]
für Chor, Orgel und Orchester
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Filz • [2014]
für Viola solo, vier Klarinetten und Streicher
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Welt • [2011/12]
für großes Streichorchester
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Markt • [2008/2009]
für großes Orchester
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Altbau • [2007/2008]
für Orchester
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Keilschrift • [2006]
für Orchester
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Obst • [2006]
für Orchester
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Autoreifen und Erinnerungen: Über Ich kann mich an nichts erinnern
Enno Poppes Komposition Salz (2005) gehört zu den meist gespielten Ensemblewerken der letzten Jahre. Der Komponist experimentiert dort mit Harmoniestrukturen im fließenden Übergang von Konsonanz und Dissonanz. Unmittelbar im Anschluss an diese Komposition sollte das entwickelte Konzept in einem Chorwerk weiterentwickelt werden, blieb jedoch unabgeschlossen liegen. Dieses Fragment wurde nun zum Ausgangspunkt von Poppes neustem Werk Ich kann mich an nichts erinnern für Orgel, Chor und Orchester (2005-2015).
"Bereits ein vom Chor gesungener einfacher Akkord hat etwas sehr Bewegendes, Anrührendes", so Enno Poppe. "Er kommt einem näher als jeder Klavierton, man reagiert auf ihn als Zuhörer körperlich völlig anders." Poppe vertont in der Chorpartie das Gedicht Fünf Zeilen von Marcel Beyer. Die neun Sätze der Komposition entsprechen den neun Strophen des Gedichts, die um das Schlüsselmotiv von Autoreifen kreisen. An diesen haften Erinnerungsfetzen von Unfall, Selbstmord und andere Schrecken, doch bleiben diese eher diffus innerhalb der Beschreibungen wechselnder Jahreszeiten, Geographie und Botanik des Ich-Erzählers. Ungewöhnlich klar sind hingegen in der siebten Strophe Kriegserinnerungen, die Poppe a capella als Höhepunkt herausstellt. Die durch solistischen Gesang ebenfalls hervortretende, werktitelgebende Zeile Ich kann mich an nichts erinnern im ersten Satz wird auf diese Weise konkretisierten. Wort- und Musiksprache suchen in diesem Werk gleichermaßen nach den unscheinbaren Überresten auf der Straße und der Erinnerung – und formen diese neu.
Das halbstündige Werk Ich kann mich an nichts erinnern ist ein vielfarbiges, überaus abwechslungs- und kontrastreiches Stück. Ausgangspunkt ist die Idee aufsteigender, neuntöniger Akkordstrukturen mit vielfältigen formalen Variationen und Abwandlungen im Mikrobereich. Der Klang ist geprägt von sich wandelnden Unschärfen und Überlagerungen. Als augenzwinkernde Referenz an das längst Überkommene in früherer Repräsentationskunst erscheint die Verbindung aus Orgel und homophon gesetztem Choral. Beide unterlaufen allerdings jedweden repräsentativen beziehungsweise pathetischen Gestus. Erst allmählich tritt die Orgel hervor und erspielt sich ihre solistische Bedeutung im Gesamtgefüge. Sie wird zum Fels, an dem sich durch mikrotonale Verschiebungen Chor und Orchester reiben können, lässt den Raum vibrieren und setzt im neunten und letzten Satz gar zu einer über acht Oktaven gespreizten Supra-Melodie an.
- Till Knipper -