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Interview: Susanna Mälkki über Luca Francesconi

Interview: Susanna Mälkki über Luca Francesconi

Im Frühjahr 2011 dirigierte Susanna Mälkki die Uraufführung von Luca Francesconis Quartett an der Mailänder Scala. Die Oper besteht aus 13 Szenen und basiert auf dem gleichnamigen Theaterstück von Heiner Müller, nach der Vorlage von Pierre-Ambroise-François Choderlos de Laclos Gefährliche Liebschaften.

Sie arbeiten nun schon seit längerer Zeit mit Luca Francesconi zusammen. 2007 haben Sie seine Werke Etymo, Da capo, A fuoco und Animus dirigiert und anschließend für Kairos eingespielt. Drei Jahre später, im Jahr 2010, hat Francesconi Sie eingeladen, bei der Biennale in Venedig ein Konzert mit Musik von Berio und Romitelli zu dirigieren. Können Sie uns mehr über Ihr Verhältnis zu Francesconi in künstlerischer und menschlicher Hinsicht sagen?
Unsere Beziehung ist in jeder Hinsicht sehr belebend und inspirierend. Ich dirigiere seine Musik so häufig, weil sie mich sehr direkt anspricht. Ich vertraue auf meinen musikalischen Instinkt, der mir immer den weiteren Weg leitet. Im Falle Luca Francesconi lässt sich mein Interesse sicher auch dadurch erklären, dass er selbst in seiner Vergangenheit Musiker war und daher nie die Bedeutung des einzelnen Musikers vergisst: ganz im Gegenteil, seine Musik bedarf der aktiven Mitwirkung des einzelnen Musikers. Ich fühlte mich geehrt, als er mich darum bat, die Uraufführung von Quartett zu dirigieren. Wenn Sie hinsichtlich des „kulturellen" Zugangs Francesconis allgemeinen Bezug zur Avantgarde meinen, empfinde ich sehr wohl eine Affinität zu diesem Ansatz, der im Vergleich zu vielen anderen weniger steif und dogmatisch ist. Ein Künstler muss immer das große Ganze im Blick haben.

Wie würden Sie Francesconis Musik im Kontext der zeitgenössischen und der traditionellen Musik einordnen?
Das hängt davon ab, wie man „Tradition“ definiert. Ich persönlich denke, dass es in der sogenannten Moderne auch heute noch viele Dimensionen zu entdecken gibt... Das Faszinierende bei Luca Francesconi ist, dass er die notwendigen kompositorischen Fähigkeiten besitzt und in der Lage ist, das Vokabular der Moderne zu nutzen - er entscheidet sich dazu (wie in einigen Teilen von Quartett), aber er fühlt sich nie dazu verpflichtet. Meiner Meinung nach steckt etwas von einem „Mutanten" in ihm, vor allem, wenn man an seine Themenwahl bei der Biennale in Venedig denkt.

Was sind Ihrer Meinung nach die technischen und stilistischen Besonderheiten von Francesconis Musik?
Beginnen wir mit den drei traditionellen Elementen der Musik - Melodie, Harmonie und Rhythmus – denen meiner Meinung nach, je nach musikalischem Kontext, unterschiedliche Bedeutung zugemessen wird. Dieser Umstand kann im Grund bereits als „traditionell" aufgefasst werden. Da sich aber die Verhältnisse unablässig ändern, bleibt auch die Musik stets lebendig. Klangfarbe und Orchestrierung sind stark vom jeweiligen Stück abhängig. Francesconi verwendet in seiner Musik eine breite Palette von Ligeti-artigen Mikrostrukturen bis hin zu großen symphonischen Landschaften, die mich teilweise an Sibelius erinnern. Ich würde sagen, dass sein musikalisches Vokabular sehr umfangreich ist. Das würde ich als sein „Handwerk“ definieren. Viel interessanter ist jedoch die Art und Weise, wie er diese musikalischen Mittel einsetzt, um die Dramaturgie des Stückes zu unterstützen.

In welcher Beziehung steht die Musik von Quartett zum Text und zur Dramaturgie?
Meiner Meinung nach hat Luca Francesconi in diesem Werk seine eigene Interpretation des Stücks musikalisch umgesetzt. Zwischen dem ursprünglichen Text von Müller und dem gesprochenen Text finden sich kaum Unterschiede: keine Fragezeichen, keine Ausrufezeichen, nur Worte.

Man darf nicht vergessen, dass jeder Komponist einer Oper gleichzeitig auch dramaturgische Aufgaben übernimmt, indem er unter anderem das Tempo der Ereignisse in der Partitur festgelegt (Musik ereignet sich im Vergleich zum Theater immer linear, also proportional). Mich beeindruckt die Art und Weise, wie Luca Francesconi musikalische „Bezüge" zu den verschiedenen Geschichten und Gedanken des Textes herstellt. Ähnlich wie mit der Leitmotivtechnik löst er plötzliche Erinnerungen aus und stellt Referenzen her. Diese Momente bewegen mich in der Oper besonders. Es gibt daher in der Partitur auf jeden Fall eine starke psychologische Ebene.

Ein weiterer wichtiger Aspekt ist die Verwendung von verschiedenen Musikstilen zur Darstellung der verschiedenen Interaktionen von Personen sowie die Unterscheidung zwischen den äußeren und inneren Vorgängen der Charaktere, wie beispielsweise in den "Traum"-Sequenzen.

Welche Bedeutung spielen dabei Elektronik und Technologie?
Aus künstlerischer Perspektive hat sich in den letzten Jahrzehnten glücklicherweise die musikalische Technologie in einer unglaublichen Geschwindigkeit weiterentwickelt. Vieles kann mit Hilfe der Elektronik in Echtzeit umgesetzt werden – wie es auch bei Quartett der Fall ist. Das ist fantastisch, denn dadurch kann Zeit flexibler gestaltet werden, und es gibt keine Einschränkung des Timings. Die Musik kann atmen, wenn es notwendig ist, was vor allem in der Oper von besonderer Bedeutung ist, wo Timing eine wichtige Rolle spielt! Die Elektronik kann auch die Voraussetzungen des Klanges sowie die Manipulation des Klanges selbst verändern. Dadurch können neue musikalische Sphären erschlossen werden. Der Klang kann sich im Raum bewegen, er kann transformiert und auf Hunderte verschiedenen Arten modifiziert werden. Die Gesangslinie von Madame Merteuil wurde beispielsweise mit Hilfe eines Harmonizers an einigen Stellen manipuliert, um die jeweilige Phrase bzw. den Gedanken hervorzuheben. Das ermöglicht uns augenblicklich eine neue Sichtweise, oder besser, eine neue Art des Hörens.

Und auch eine neue kompositorische Herangehensweise an ein solch antiquiertes Genre wie Oper?
Alle wichtigen Opernkomponisten der Vergangenheit haben in ihren Kompositionen bestehende Formen verwendet und diesen etwas Neues hinzugefügt. Wenn Sie beispielsweise heute eine Aufführung einer Barockoper besuchen, werden Sie große Unterschiede zu den vergangenen Jahrzehnten feststellen. Denn wir können dank neuer Regisseure erkennen, dass diese alten Werke im Grunde sehr radikal waren und es auch immer noch sind! Man muss das Genre natürlich sehr gut kennen, um überhaupt zu wissen, wo man beginnen muss. Die Erneuerung der Tradition ist paradoxerweise nur dann möglich, wenn man mit ihr vertraut ist. Francesconi besitzt dieses Wissen, und aufgrund seiner umfangreichen Kenntnisse kann er neue Wege erschließen - was er auch mit großem Erfolg macht!

Ich kann mir vorstellen, dass speziell diese neuen Elemente von Quartett zu einigen Problemen und zu interpretativen Entscheidungen geführt haben.
Wie ich bereits zuvor gesagt habe, ist Francesconi Musik sehr klar für mich, sodass ich hinsichtlich der Interpretation nie das Gefühl hatte, vor einer Entscheidungen zu stehen: es steht ja alles in der Partitur! Durch die genaue Umsetzung des Geschriebenen wurde die Musik für alle Beteiligten, also für Sänger, Musiker und Chor, zu etwas Natürlichem. Es war aber ein anstrengender Weg bis dahin, wie es bei neuen zeitgenössischen Werken immer der Fall ist. Es braucht Zeit, um etwas völlig Neues, das gleichzeitig sehr virtuos ist, zu verstehen, und wir hatten sehr wenig Zeit!

Luca Francesconi zufolge ist Quartett aus einer Reflexion über das Gefühl der Identität heraus entstanden. Glauben Sie, dass es im Kontext des Pluralismus, der die Musik heute prägt, möglich oder notwendig ist, eine gemeinsame Identität zu finden?
Ich würde nicht von einer „gemeinsamen Identität" sprechen, da die Individualität des Einzelnen etwas Schönes ist, das wir uns bewahren sollten. Aber natürlich ist es wichtig, eine Kultur des Miteinanders aufzubauen. Wenn wir unsere Zivilisation erhalten wollen, kommt unserem kulturellen Erbe eine ebenso zentrale Bedeutung zu. Das menschliche Gedächtnis ist sehr kurzlebig, das kollektive Gedächtnis und Erbe hingegen ist gewaltig, und das ist die wahre Kultur. Die Verantwortung ergibt sich als Konsequenz daraus (ich bin Optimistin), aber Pluralismus ist nicht notwendigerweise etwas Schlechtes.

Die Zweideutigkeit zwischen dem Realen und dem Virtuellen ist mittlerweile eine Grundvoraussetzung im Leben der Menschen des 21. Jahrhunderts. In Quartett ist diese Zweideutigkeit ein integraler Bestandteil der Musik, des visuellen Spektakels, des Textes und der Dramaturgie. Wie denken Sie darüber?
Im Fall von Quartett glaube ich, dass es die Verwendung von all den verschiedenen „virtuellen" Technologien, dem Publikum letzten Endes leichter gemacht hat, die verschiedenen Ebenen von Merteuil und Valmont sowie ihre unterschiedlichen geistigen Welten zu verstehen. Die multimediale Komponente ist kein Selbstzweck, sondern ein Werkzeug, mit dem neue Horizonte erschlossen werden können. Lassen Sie uns auch nicht vergessen, dass die Grundlage dieser Oper ein Werk von Laclos ist, das vor Jahrhunderten geschrieben worden ist! Eine weitere Zweideutigkeit in Quartett ist jene zwischen dem Öffentlichen und dem Privaten - ein Phänomen, das offenbar schon immer in der Gesellschaft existiert hat. Es gibt jedoch keinen Zweifel daran, dass die Massenmedien im 21. Jahrhundert unser Leben stark dominieren.... Sie sind eine Form der Massenmanipulation. Dies ist ein weiterer guter Grund, die Kunst am Leben zu erhalten: um all dies zu hinterfragen. 


Foto: Simon Fowler