Unsere Komponistinnen, Teil 2: Pagh-Paan
Über Jahrhunderte hinweg wurde klassische Musik hauptsächlich von Männern komponiert und aufgeführt. Younghi Pagh-Paan war im Jahr 1994 (!) die erste Frau, die im deutschsprachigen Raum eine Professur für Komposition erhalten hat; und sie bekam 1980 (!) als erste Frau einen Auftrag von Donaueschingen für ein Orchesterwerk. Nun feiert sie am 30. November 2015 ihren 70. Geburtstag. In unserer Reihe „Unsere Komponistinnen“ widmen wir uns dem Schaffen Younghi Pagh-Paans mit einem Text von Liza Lim.
„Zum ersten Mal habe ich Younghi Pagh-Paans großes Orchesterwerk NIM (1986/87) in den späten 1980ern auf Kassette gehört. Bevor es das Internet und Youtube gab, waren wir in Australien darauf angewiesen, dass Freunde in Europa Uraufführungen im Radio mitschnitten: Wenn man unbedingt die neueste zeitgenössische Musik hören wollte, war so eine Kassette, die nach einem Festival wie Donaueschingen oder Metz mit der Post ankam, etwas sehr Wertvolles.
Was ich auf dieser Kassette gehört habe, war Musik von gewaltiger emotionaler Expressivität, die ein großes Bewusstsein für zeitliche Strukturen mit roher klanglicher Energie zusammenbringt. Ich kannte Pagh-Paans kulturellen Hintergrund und konnte deshalb die Verbindung zwischen NIM und der Erhabenheit koreanischer Hofmusik mit ihrem sich langsam entwickelnden Tempo herstellen.
NIM klingt mit seinen in Gruppen aufschreienden Blech- und Holzbläsern wie eine Wehklage, das Schlagwerk gibt dem Stück zudem auch etwas Unaufhaltsames und Kompromissloses. Es ist eine Mischung aus Wildheit und Reflexion – hören Sie auf das Ende von NIM, bei dem die Piccoloflöte und die Streicher zusammen mit dem Schlagwerk nach dem vorherigen Aufruhr ein Gefühl unendlicher Weite vermitteln. Die paradoxe „wilde Gelassenheit“ in dieser Musik hat mich wirklich inspiriert; danach suche ich auch in meiner eigenen Arbeit.
Aber Younghis Musik steht nicht nur für das Koreanische – ihre Musik öffnet Türen zwischen Nord-Ost-Asien einerseits sowie Deutschland und Europa andererseits; das betrifft sowohl die unterschiedlichen Zeitvorstellungen als auch das Verhältnis zwischen Oberfläche und Tiefe sowie das zwischen Individuum und Kollektiv. Dieser interkulturelle Aspekt ist so wichtig, weil er ein Vorbild dafür ist, wie ein Künstler neue Denkweisen anregen kann: über kulturelle Orte, Identitätsfragen und darüber, was es bedeutet, Teil einer globalisierten Welt zu sein.
Künstler sind Nomaden, die durch unterschiedliche kulturelle Strömungen beeinflusst werden und diese so gewissermaßen mit sich „nach Hause“ tragen – sogar dann, wenn sie nur auf der Suche nach Anknüpfungspunkten, finanziellen Ressourcen (lassen Sie uns ehrlich sein!) und Resonanzen in der ganzen Welt umherziehen. Wirklich interessant wird es dann, wenn das Verlassen der Heimat zugleich auch ein inneres Ankommen ist, wenn das Reisen einen näher zu sich selbst bringt. Ein Nomade kann nicht viel Ballast mit sich herumtragen, deshalb bedeutet das Reisen gewissermaßen auch, sich darüber klar zu werden, was wirklich wichtig ist.
Ich bewundere auch, wie Younghi sich einen Namen als weibliche Künstlerin gemacht hat. Es scheint so, als gebe es nur wenig Fortschritt im immer wieder gleichen Kampf von uns Frauen darum, in der zeitgenössischen Musikszene Fuß zu fassen – da fühlt man sich manchmal schon ein bisschen allein, und Weggefährtinnen können dann Stärke verleihen.
Ich hoffe, dass wir noch viel von Younghi hören werden, denn sie wird dieses Jahr 70 Jahre alt. Wir müssen Mutterfiguren in der Kunst genauso wertschätzen wie die Vaterfiguren. Und wer könnte die Vielschichtigkeit des Seins und das Authentische in der Musik besser repräsentieren als Younghi Pagh-Paan?“
(Liza Lim)
NIM • [1986/87] • Werkbeschreibung
für großes Orchester
4 (2 Picc, Afl). 2. Eh. 3. Bkl. 4 (Kfg). / 4. 3. 3. 1. / Pk. 3 Schlzg. / Str.
Uraufführung: Donaueschingen, 16.10.1987
Dauer: 17’