Zwischen 1897 und 1899 veröffentlichte der heute zu Ricordi gehörende Forberg-Verlag fünf Werke von Richard Strauss: vier Orchesterlieder sowie das Melodram Enoch Arden. Das beliebteste Werk darunter ist das spätromantische Lied Befreit. Weniger häufig aufgeführt werden die Orchesterlieder Notturno und Nächtlicher Gang, deren avancierte, expressionistische Klangsprache auf das Frühwerk Arnold Schönbergs sowie auf Elektra und Salome verweist. Die Vertonung des Dehmel-Gedichts Der Arbeitsmann nimmt aufgrund der deutlichen Sozialkritik eine Sonderstellung in Strauss‘ Schaffen ein. Ungewöhnlich für Strauss ist auch das Melodram Enoch Arden für Klavier und Stimme, das durch Glenn Gould bekannt wurde.
Richard Strauss: Befreit
op. 39, Nr. 4 (1898, Instrumentation 1933)
Text: Richard Dehmel (1863–1920)
2.2.EHr.2.Bklar.2.Ktfg. – 4.2.3.1. – Pk – Hrf,Harm – Str – Solo-Stimme
Dauer: 5‘
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Das zu den 5 Liedern op. 39 gehörende Orchesterlied Befreit wurde 1898 komponiert und erst 1933 orchestriert. In den 35 Jahren, die zwischen Klavier- und Orchesterfassung liegen, hatte sich in Strauss‘ Leben viel verändert: durch seine Opern und Tondichtungen war er zu einem der erfolgreichsten Komponisten seiner Zeit geworden. Seine in diesen Werken gewonnene Orchestrierungskunst zeigt sich klar in der Instrumentierung von Befreit.
Strauss vertonte ein Gedicht des expressionistischen Dichters Richard Dehmel (1863-1920): Ein Mann nimmt Abschied von seiner geliebten Frau, mit der er durch alle Höhen und Tiefen des Lebens gegangen ist. Glück und Schmerz, Trauer und Hoffnung verschmelzen in der Liebe dieses Paares.
In Strauss‘ emotionsgeladener Vertonung liegen Freude und Verzweiflung ebenfalls dicht beieinander: Wie ein schwermütiger Seufzer klingt es, wenn die seelenvolle Gesangsmelodie im Refrain des Liedes um einen Halbton nach unten sinkt, während die Worte „O Glück!“ zu hören sind. Die Tragweite des bevorstehenden Lebewohls bleibt am Ende der Fantasie jedes Einzelnen überlassen: Weder bei Dehmel noch bei Strauss lässt sich eindeutig bestimmen, ob es sich bei der Trennung um einen vorübergehenden Abschied von der Geliebten oder um deren Tod handelt.
Richard Strauss: Der Arbeitsmann
op. 39, Nr. 3 (1897)
Text: Richard Dehmel (1863–1920)
Picc.2.2.EHr.3.2Bassett-Horn.Bklar.3.Ktfg – 6.2.3.2 – 2Schlzg – Str – Solo-Stimme
Dauer: 3‘
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Auch das Orchesterlied Der Arbeitsmann (1897) entstammt den 5 Liedern op. 39 und basiert ebenfalls auf einem Text Richard Dehmels. Ebenso bedrückend wie ergreifend ist Strauss‘ düstere Vertonung dieses sozialkritischen Kommentars zum Gefangensein und der Entfremdung der Arbeiterklasse in der modernen, industriellen Welt.
„Wir haben auch Arbeit, und gar zuzweit, und haben die Sonne und Regen und Wind, und uns fehlt nur eine Kleinigkeit, um so frei zu sein, wie die Vögel sind: nur Zeit.“ - Schwermütig deklamiert der Sänger die Verse des Gedichts in trostlosem Moll, nur unterbrochen von kurzen lyrischen Passagen, die für einen Moment von einem unbeschwerten, freien Leben träumen lassen.
Richard Strauss: Notturno
Zwei größere Gesänge für eine tiefe Singstimme mit Orchesterbegleitung op. 44, Nr. 1 (1899)
Text: Richard Dehmel (1863–1920)
Picc.2.2.EHr.2.Bklar.2.Ktfg – 0.0.3.0 – Str – Solo-Stimme
Dauer: 14‘
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„…so müd‘ und sacht aus ferner Nacht, so kummerschwer kam seiner Geige Hauch daher.“ – Das Symbol des Geigenspielers als Figur des Todes war nicht erst im Expressionismus ein beliebtes Stilmittel in Kunst und Literatur. Richard Dehmels Gedicht Notturno greift diese Symbolik auf: In der Nacht erscheint der Tod dem träumenden lyrischen Ich in Gestalt eines verstorbenen, Geige spielenden Freundes. Die thematische und musikalische Nähe zu Arnold Schönbergs Verklärte Nacht, das ebenfalls auf einem Text Dehmels beruht, ist offensichtlich.
Die ungemütliche, bedrohliche Winter-Atmosphäre und erotische Anspielungen bieten reichlich Spielraum für eine facettenreiche musikalische Umsetzung, den Strauss voll ausschöpft. Seine Vertonung aus dem Jahr 1899 ist für ein Orchesterlied ungewöhnlich lang (knapp 14 Minuten) und lässt sich als ein Miniatur-Drama bezeichnen. Die Klangsprache verweist auf den Weg der musikalischen Avantgarde, den er einige Zeit später mit seinen Opern Salome und Elektra beschritt. Durch Strauss‘ geschicktes Spiel mit entfernten Tonarten, den aufwühlenden Dissonanzen und der zerrissenen Melodie der Gesangsstimme, die im Dialog mit der Solovioline (die den Tod symbolisiert) agiert, wird hier ein schauerliches, ergreifendes Bild von Tod und Verlust gezeichnet.
Richard Strauss: Nächtlicher Gang
Zwei größere Gesänge für eine tiefe Singstimme mit Orchesterbegleitung op. 44, Nr. 2 (1899)
Text: Friedrich Rückert (1788–1866)
2Picc.4.2.EHr.3.2.Ktfg – 6.4.3.Basstb – Pk,3Schlzg – Hrf – Str – Solo-Stimme
Dauer: 7‘
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Die Nähe zum frühen Stil Arnold Schönbergs zeigt sich auch im Orchesterlied Nächtlicher Gang aus dem Jahr 1899, das genau wie Notturno zu den Zwei größeren Gesängen für eine tiefe Singstimme mit Orchesterbegleitung op. 44 gehört.
Der Komposition liegt ein Text des deutschen Dichters Friedrich Rückert (1788-1866) zugrunde. Das Thema der Nacht wird hier jedoch ganz anders behandelt als in Notturno: Wild, ungebändigt und mitunter dramatisch klingt Strauss‘ Vertonung des Gedichts, auch hier sind Anklänge an seinen späteren, avancierten kompositorischen Stil zu hören. Mit jedem Mal dringlicher singt das lyrische Ich, offenbar ein liebender Mann, den Refrain jeder Strophe: „Es muss doch zur Liebsten gehn!“ - insgesamt sieben Mal, jedes Mal um einen Halbton erhöht. Und der Liebende hat allen Grund zur Verzweiflung, denn auf seiner beschwerlichen Suche nach der Geliebten muss er sich seinen Weg durch den nächtlichen Sturm bahnen und trifft dabei auf geisterhafte Erscheinungen. Unermüdlich sucht er nach ihr – und findet die Verstorbene schließlich in einer Gruft.
Richard Strauss: Enoch Arden
Ein Melodrama (1897)
für Klavier und Stimme
Text: Alfred Tennyson; deutsche Übersetzung: Adolf Strodtmann
Dauer: 53‘
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Eine filmreife Geschichte vertonte Strauss 1897 mit dem Gedicht Enoch Arden aus dem Jahr 1864 des Briten Alfred Lord Tennyson (in deutscher Übersetzung von Adolf Strodtmann): Seit ihrer Kindheit konkurrieren Enoch und Philipp um Annie, das hübscheste Mädchen des Dorfes. Annie entscheidet sich zunächst für Enoch. Als dieser jedoch auf dem Meer verschollen geht, nutzt Philipp seine Chance und heiratet sie. Jahre später kehrt Enoch zurück, gibt sich aber nicht zu erkennen, um Annies neues Leben nicht zu zerstören. Annie erfährt erst nach Enochs Tod von seiner wahren Identität.
Das fast einstündige Melodram von Richard Strauss besteht aus zwei Teilen, in denen jedoch nicht fortlaufend Musik erklingt – die Begleitung wird gezielt eingesetzt, um die emotionalsten Momente der Geschichte zu untermalen und zu kommentieren. Den drei Hauptcharakteren und dem Meer sind dabei Leitmotive zugeordnet. In der musikwissenschaftlichen Forschung wurde Enoch Arden auch als Schauspielmusik und Hör-Oper bezeichnet.
Enoch Arden wurde 1897 durch Richard Strauss am Klavier und Ernst von Possart als Sprecher uraufgeführt und war so erfolgreich, dass die beiden anschließend mit dem Werk auf Tournee gingen. Enoch Arden wurde nach dem Zweiten Weltkrieg durch Interpreten wie Glenn Gould, Emanuel Ax und Dietrich Fischer-Dieskau wiederentdeckt.
Text: Henriette Schwarz