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Komponisten über Komponisten

Komponisten über Komponisten

Auf unserem Blog stellen unsere Komponisten regelmäßig ihre Lieblingswerke aus unserem Katalog vor. Dieses Mal: Sergej Newski schreibt über Vinko Globokar.

Archäologie des Widerstands.

„Ich habe immer gedacht, dass wir für Vinko Globokar  alle zu brav sind. Ich traf ihn zum ersten Mal im Sommer 1993 in Dresden, wo ich damals studierte. Es war ein gewöhnlicher Improvisationskurs: „Bitte machen Sie dasselbe wie Ihr Nachbar; bitte machen Sie das Gegenteil dessen, was Ihr Nachbar macht“.

Gleichzeitig nahm  Vinko an unserem Spiel immer wieder kleine Korrekturen vor, die das Ganze fast unbemerkt beeinflussten. Und gerade diese vorsichtige und geschickte Navigation gab mir ein Gefühl von Öffnung und Freiheit, das ich bis dahin nicht kannte. Es gab kein striktes Koordinatensystem mehr, keine Tonhöhen und Takte, kein Parameterdenken. Es war plötzlich nur eine freie Entfaltung eines Klanges in der Zeit und in der sich immer wechselnden Relation zu den anderen Klängen; und den ganzen Prozess konnte ich mitsteuern.

Nach der Stunde lud mich Globokar zu einer Zigarre ein - also zu einer Unterhaltung, während er eine rauchte. Ich hatte keine Ahnung, wie lange man eine Zigarre raucht (eine Dreiviertelstunde etwa), und diese  Pause wurde zu einem langen Gespräch, einem der spannendsten in meiner Studienzeit. Vinko sagte, dass er sehr betroffen von dem Krieg in Ex-Jugoslawien sei, und dass er jetzt ein Stück schreiben wolle, das ausschließlich auf Schimpfwörtern verschiedener Sprache des Balkans basiere, die mit dem Buchstaben B beginnen. Es ging um die Elegie Balcanique, die in diesem Jahr tatsächlich entstand.

Das Hauptproblem heute, sagte Vinko dann, sei, dass die Medien sich immer mehr mit sich selbst beschäftigen würden statt die Probleme der Welt zu beschreiben. Er sagte, in jeder Zeitung gäbe  es drei Seiten, die genau so heißen: Medien. Das führe zu nichts Gutem.

Er fragte mich auch, warum die russische Nachkriegsavantgarde plötzlich so religiös geworden sei. Ich wusste nicht, was ich antworten sollte. Religion in der russischen Postmoderne war, dachte ich, so etwas wie eine Heckflossenverzierung eines altmodischen Cadillacs. Man schmückte sich gerne damit, ohne groß darüber nachzudenken, aber eigentlich ging es auch ohne.

Irgendwann später erzählte mir Vinko, wie er 1969 zum ersten Mal in Tallinn in der Sowjetunion war und dort einen jungen verschrobenen Fluxuskünstler kennenlernte, der gerade eines der ersten sowjetischen Happenings durchführte, nämlich das Begräbnis eines Kontrafagottes. Der Name des jungen Aktionisten war Arvo Pärt. Es hat Vinko offenbar beschäftigt, warum gerade seine Altersgenossen (Pärt und Globkar sind der gleiche Jahrgang) von Revolutionären zu braven Protestanten wurden, die Messen schrieben. In seiner eigenen Biografie fand er dafür keine Erklärung und keinen Widerhall.

Später in Berlin hörte ich in Konzerten mehrere Stücke von Globokar und erlebte ihn als Solist. Besonders prägend war Corporel für einen Body Percussion Player, wo er mit 60 Jahren noch unglaublich fit mit dem eigenen Körper als Instrument agierte. Und vor allem konnte man seine großen Werke hören.

Die 90er-Jahre waren die Zeit, in der die Neue Musik den Begriff Epos neu erfinden musste, gerade weil das Ende der Geschichte von den Soziologen angekündigt worden war. Nonos Il Prometeo, Globokars Les Emigrées, Der Mann im Fahrstuhl von Heiner Goebbels und die ersten Dokumentaropern von Oehring waren bezeichnende Werke dieser Zeit. Globokar reagierte auf die Herausforderung, die neue Epen zu kreieren vor allem mit l’Armonia Drammatica, einer Oper nach Edoardo Sanguinetti, die ursprünglich für die Opéra Comique in Paris komponiert wurden war, aber erst 2002 in Bielefeld szenisch realisiert wurde.

In einem polyphonischen Libretto wird durch ein Geflecht von sechs Schicksalen die ganze Geschichte des 20. Jahrhunderts erzählt. Ich erinnere mich, wie ich im März 1995 in der Generalprobe  der konzertanten Uraufführung von l’Armonia Drammatica im Berliner Konzerthaus saß und plötzlich diesen Strom von mehreren kontrastierenden expressiven und spröden Materialschichten über mich kommen fühlte, die gemeinsam  tatsächlich so etwas wie eine dramatische Harmonie ergaben.

Es war etwas in dieser Musik, was unglaubliche Zugkraft hatte und was mich zwang, mich damit zu beschäftigen. Einerseits war es immer das, was Stockhausen „die kammermusikalische Behandlung des Orchesters“ nannte, andererseits bestand die Syntax fast nur aus Brüchen und Überlagerungen von kleinen Fragmenten. Diese Fragmente bildeten zusammen trotzdem ein Ganzes und schafften eine kontinuierliche Erzählung aus mehreren abgebrochenen Anfängen. Wahrscheinlich ist „Bruch“ oder Zlom, wie ein anderes großes Werk  von ihm  heißt, ein fundamentaler Begriff in der Globokar-Syntax. Eine große Geschichte kann nur erzählt werden, wenn sie mehrmals abgebrochen oder von den anderen Geschichten überlagert wird. Vielleicht liegt es an Globokars zweisprachiger Kindheit in einem fremden Land - da traut man der Geschlossenheit einer Sprache, eines Vokabulars nicht mehr.

1998 traf ich Vinko Globokar wieder in seiner Berliner Wohnung an der Schönhauser Allee und zeigte ihm meine ersten Stücke, die ich nun als meine eigene bezeichnen konnte. Wieder hatte ich das Gefühl, nicht kühn genug zu sein.  Unsere Generation beschäftigte sich mit den erweiterten Möglichkeiten des instrumentalen Stils, jegliche soziale und politische Konnotation in der Musik wurde bei den jüngeren Generationen weggeblendet, und der rebellische Geist der Alten war uns suspekt, während wir für die Alten wahrscheinlich auch als zu glatt und zu angepasst - angesichts der sich gerade rapide entwickelnden Strukturen des Neue-Musik-Markts – erschienen.

Nach der Präsentation erhielt ich ein zurückhaltendes Lob des Meisters und – zu meiner Überraschung – fünf Jahre später doch einen Auftrag für ein Festival in Saarbrücken, dessen Programm Globokar mitgestaltet hatte. Das Thema des Festivals war Masse Macht und Individuum, benannt  nach einem Werk von Elias Canetti und einem der wichtigsten Stücke von Globokar selbst, das im gleichen Programm auch erklungen ist.

Dieses Thema war auch unseren kleinen Aufträgen vorgegeben, was uns in Kombination mit einer Kammerbesetzung  vor keine leichte Aufgabe stellte. Als ich jedoch dieses riesige Werk von Globokar für vier Solisten und zwei Orchester in einer verlassenen Industriehalle nicht weit von seiner Lothringischen Heimat erlebte, und die Löcher in der Textur des Orchesterklangs, die zerrissene Korrespondenz einzelner räumlich verteilter Gruppen und Solisten mit der sperrigen Architektur der Industrieruine unwillkürlich in Verbindung setzte, war ich von der Offenheit und Kraft seiner Musik noch mehr mitgerissen als sonst.

Dort in Saarbrücken habe ich zum ersten Mal etwas mehr über Ursprünge seines Werks verstanden, als ich Croc-en-jambe gesehen habe, ein Stück für die Blechblaskapelle, die es durch einen Ort marschierend spielen soll. Die Struktur des Stücks bildet ein Mosaik aus verschiedenen Marschpatterns, die sich frei überlagernd ein zugleich absurdes und schönes, verletzliches Klangbild abgeben. Die nachvollziehbare Unsicherheit der Laienmusiker, die diese  Aufgabe allerdings glänzend gemeistert  haben, wurde selbst zum Thema des Stücks. Gleichzeitig ging Globokar, der ja selbst einst Posaunist in einer Militärkapelle war, mit seinen Musikern unglaublich fair und zuvorkommend um. Man erahnt in dieser kleinen Arbeit eine Art Selbstanalyse, die aus disparaten Pattern der Vergangenheit eine widerspruchsvolle und zugleich sehr schöne Klanggegenwart zusammensetzt.“


Sergej Newski