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Rituale von Samir Odeh-Tamimi bei Ultraschall Berlin

Rituale von Samir Odeh-Tamimi bei Ultraschall Berlin

In dem Orchesterwerk Rituale beschäftigt sich Samir Odeh-Tamimi mit religiöser Ekstase, die er bei den spirituellen Praktiken der Sufis erfahren hat. Nach der Uraufführung 2009 bei musica viva in München bringen nun Simone Young und das Deutsche Symphonie-Orchester Berlin zum 20-jährigen Jubiläum des Festivals Ultraschall Berlin das Orchesterwerk erneut auf die Konzertbühne.


Rituale (2008)

für Orchester 4.4.4.4 -  4. 4. 4. 1 - 3perc - 14.12.10.8.6
Dauer: 18'
UA: 06.02.2009, München
 
Konzert am 20.01.2019
Deutsches Symphonieorchester Berlin, Simone Young (cond.); Haus des Rundfunks


Über das Werk

Samir Odeh-Tamimi: Rituale für Orchester (2008) 

Samir Odeh-Tamimis Orchesterwerk Rituale wurde 2009 in der Reihe musica viva des Bayerischen Rundfunks in München mit dem Symphonieorchester des BR unter der Leitung von Arturo Tamayo uraufgeführt. Die Impulse für das Stück reichen bis in die Jugendzeit des Komponisten in Israel zurück: Samir Odeh-Tamimi lernte als junger musikinteressierter Mensch in seiner palästinensischen Community eine enge Verbindung zwischen Gebetsritualen und Klängen im Rahmen des Sufismus, der mystischen Ausrichtung im Islam, kennen. 

Viele Männer aus der mütterlichen Linie der Vorfahren von Samir Odeh-Tamimi waren Sufis. Sein Stief-Großvater war Heiler und Leiter einer Sufi-Bruderschaft. Als Jugendlicher nahm Samir Odeh-Tamimi mehrfach an Sufi-Treffen in der Bruderschaft seines Stief-Großvaters teil, um die Rituale musikalisch zu begleiten. Allerdings ohne das Wissen seiner Mutter, die ihm dies ohnehin verboten hätte, weil sie es für zu extrem hielt. Dies hat der Komponist bei einem Gespräch vor der Berliner Erstaufführung von Rituale im Rahmen von Ultraschall Berlin 2019 verraten: „Bei Sufis denkt man an Versenkung und Innerlichkeit, etwa an die sanften tanzenden Derwische in der Türkei. Die Gruppe meines Großvaters, die zum Orden der Naqschbandīya zählte, war bei ihren Ritualen mit Gesängen und Trommelspiel in einem verdunkelten Raum jedoch auch wild und unberechenbar, wenn sie in einen Trancezustand kam.“ 

Schon damals interessierten Samir Odeh-Tamimi, der, wie er betont, nicht religiös ist, an diesen Zeremonien die musikalischen Komponenten: die Archaik, die Konzentration, die Tiefe der Empfindungen, die Ekstase. Vor allem der Eindruck der Ekstase vermittelt sich unmittelbar in der instrumentalen Wucht und im rhythmischen Puls vieler Passagen in seinem Orchesterwerk Rituale. Dabei geht es ihm bewusst nicht darum, ein bestimmtes Ritual klanglich umzusetzen oder die von den Sufis eingesetzten Korangesänge und Tanzrhythmen als Zitate wiederzugeben. Vielmehr hat der Komponist versucht, die Essenz daraus mit eigenen musikalischen Mitteln umzusetzen. Das, was er aus den Gesängen und Trommelrhythmen der Sufi-Rituale übernahm, vergleicht er mit dem Nachhall lange vergangener Klänge in einem Raum. Es sind Spuren, der Nachhall in seiner persönlichen Erinnerung.

In Rituale lässt die Vehemenz tiefer Bläserakkorde am Anfang des Stücks an archaische Fanfaren denken. Flirrende Streicher befeuern dabei die Dynamik. Im Mittelteil des Stücks treten die Streicher dann stärker in den Vordergrund, in chromatisch und mikrotonal geführten Linien in hohen Lagen und in unterschiedlichen Schichtungen – instrumentale Entsprechungen der Melismen bei Gesängen aus der arabischen Tradition. Zwischenzeitlich lösen sich immer wieder Einzelstimmen heraus. Gegen Ende von Rituale treffen mehrere, gewissermaßen unabhängige Musiken geschichtet zusammen. Dies entspricht einem Phänomen, das Samir Odeh-Tamimi in seiner Jugend bei den Sufi-Zusammenkünften am stärksten beeindruckte: Auf dem Weg zur Ekstase bei einem Ritual werden aus dem gemeinsam singenden und tanzenden Kollektiv zunehmend individuelle Ausgestaltungen deutlich, verzückt in sich versunkene Teilnehmer, mit eigenen Melodien und eigenem Tempo. Samir Odeh-Tamimi hat somit in Rituale persönliche Eindrücke komplexer musikalischer Interaktionen während eines sufistischen Rituals für das Kollektiv des modernen Orchesters pointiert eingefangen und verarbeitet.

Eckhard Weber


Partitur von Rituale