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Zum Tod des Komponisten Hans Wüthrich

Zum Tod des Komponisten Hans Wüthrich

Komponieren ohne Netz

Jedes seiner Werke war einzigartig und gewagt. Am 20. März ist der Schweizer Komponist Hans Wüthrich im Alter von 81 Jahren in Arlesheim verstorben.

Ferngesteuerte Spielzeugautos rasen kreuz und quer über die Bühne, stossen zusammen und bleiben stehen. Alltagsschrott fällt vom Bühnenhimmel herunter; ebenso lebensgrosse Puppen, die sofort im Boden versinken, wozu für einen Sekundenbruchteil Orchesterklänge aufgeblendet werden. Das Leben: ein aufgebauschter Augenblick, so in Hans Wüthrichs Bühnenstücken LEVE und Happy Hour, in denen er auf spielerische und existentielle Weise Beziehungen im Theaterraum untersuchte und in eine wunderbare Balance zwischen Lachen und Erschrecken brachte.



So ungewöhnlich und originell war die Kunst dieses Komponisten, der 1937 in Aeschi im Kanton Bern zur Welt kam. Er studierte in Bern bei Sava Savoff (Klavier) und Sándor Veress (Theorie) und anschliessend Komposition bei Klaus Huber. Beharrlich eine Spur zu verfolgen, habe er bei ihm gelernt. Gleichzeitig promovierte Hans Wüthrich in Zürich in Linguistik. Das gab ihm das Rüstzeug, auf das er sich jedoch nicht routiniert verließ, sondern das er vielmehr hinter sich ließ, um zu anderem zu gelangen. Er komponierte ohne Fangnetz. Jedes seiner Stücke ist gewissermassen ein Unikat. Er beginne „bei jedem Stück mehr oder weniger bei Null“, sagte er im Gespräch. „Natürlich greife ich zurück auf frühere Erfahrungen, aber ich glaube nicht, dass ich eine persönliche Tonsprache habe. Ich überlege immer wieder neu, wie ich eine Vorstellung realisiere. Dabei habe ich allerdings den Ehrgeiz, dass jemand, der ein Stück von mir hört, eine Erfahrung macht, die er nur in diesem einen Stück machen kann, sonst nirgends.“

Diese Projekte liefen zuweilen gänzlich dem Musikbetrieb zuwider. Brigitte F (für die Donaueschinger Musiktage 1978) war das audiovisuelle Porträt einer jungen Frau aus der Basler Drogenszene. Ein halbes Jahr lang traf er sich wöchentlich mit ihr, unterhielt sich mit ihr und suchte für ihre Gefühle, Gedanken, Lebenssituationen einen musikalischen Ausdruck. Jeder Ton war mit ihr abgesprochen. In diesem Experiment, mit einem anderen Ich zu komponieren, suchte Wüthrich einen schutzlosen Raum auf. 



In den Netzwerken für Orchester ohne Dirigenten (in Donaueschingen allerdings dirigiert dargeboten) schuf er ein kybernetisches System, das sich selber steuert und zum quasi-sozialen Organismus wird. In Wörter Bilder Dinge für Alt und Streichquartett übertrug er Sätze aus der Genfer Menschenrechtskonvention von 1948 zunächst in ägyptische Hieroglyphen und dann zurück in moderne Sprachen. Die isolierten Substantive, in extrem langsamem Tempo artikuliert, erschienen so verfremdet und geheimnisvoll. In der Textsammlung Die singende Schnecke (1979) regte er zum inneren Hören von Klängen an. „Kombiniere das äußerlich Gehörte innerlich mit etwas Langsamem, Tiefem“ heißt etwa eine Anleitung oder: „Überfliege den Stadtlärm mit einem innerlich gehörten Vogelflug“. Tatsächlich: Mit solchen Flügen war er seiner Zeit voraus …

Text: Thomas Meyer



Photo: Claire Niggli