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4.48 Psychose – Interview mit Philip Venables

4.48 Psychose – Interview mit Philip Venables

Eine Solosymphonie in vielen Stimmen

Ein Gespräch mit dem Komponisten Philip Venables  

 
Philip, in Dresden kommt deine Kammeroper »4.48 Psychose« erstmalig in deutscher Sprache zur Aufführung, nachdem sie 2016 als Auftragskomposition für das Royal Opera House mit großem Erfolg in London uraufgeführt wurde. Die Vorlage deiner ersten Kammeroper ist das letzte Stück der britischen Dramatikerin Sarah Kane, die als eine der außergewöhnlichsten Autorinnen der 1990er galt und sich mit 28 Jahren das Leben nahm. Wie bist du auf ihren Text gekommen? 
Ich kannte die Texte und Stücke von Sarah Kane schon sehr lang, habe aber am Beginn meiner Arbeit nicht sofort daran gedacht, einen schon bestehenden Text zu verwenden. Ich war völlig frei in meiner Themenwahl und begab mich auf die Suche nach einem geeigneten Autor für ein gemeinsames Projekt. Ich habe ein Jahr lang viele (Schauspiel-) Texte gelesen, viel Theater gesehen, Autoren getroffen. Aber irgendwie passte es nie ganz zusammen und durch einen Zufall sah ich ausgerechnet Kanes »4.48 Psychose« in einer Studenten-Aufführung und stellte fest, dass dieser Text eigentlich schon fast alles hat, was ich mir vorgestellt habe. Die Texte haben mich tief berührt und sind in ihrer Klarheit und Direktheit sehr theatral. Ich habe dann Sarah Kanes Bruder Simon getroffen, ihm meine Ideen erzählt und er hat einer Vertonung zugestimmt. In mehreren Gesprächen mit ihm und Freunden Kanes hat sich für mich ein sehr beeindruckendes Bild der Autorin und ihrer Stücke ergeben.  

Was ist das Besondere an diesem Text, und was prädestiniert ihn für eine Musiktheaterkomposition? 
Ich wollte aus diesem Text eine Oper machen, weil es ein sehr formaler, abstrakter Text ohne konkrete Handlung und Festlegung von Sprechern und Charakteren ist und mir damit größtmögliche Freiheit für die Komposition, das Erschaffen von verschiedenen musikalischen und dramatischen Ebenen gibt. Die vier vorhergehenden Stücke Kanes sind ebenfalls sehr kraftvoll, aber sie haben alle, wenn auch oft nur in rudimentärer Form, festgelegte Figuren und das wollte ich nicht. In »4.48 Psychose« sind es 24 Szenen, die alle wie kleine Tableaus ohne genaue Zuweisung des Sprechers funktionieren. Es war sehr spannend, die vielfältigen Textsorten und -stile von inneren und äußeren Dialogen, Erinnerungsfragmenten, poetischen Anmutungen, Krankenblatteinträgen, Gedankenläufen bis hin zu Testergebnissen und Aufzählungen von Medikamenten zu untersuchen. Diese Vielfalt und die Musikalität des Textes haben mich sofort inspiriert. Es öffnen sich so viele Räume und Möglichkeiten für die Dramaturgie der Komposition, unabhängig von Figur, Ort oder Zeit.

Es gibt in Sarah Kanes Vorlage sehr konkrete Hinweise auf die psychische Erkrankung der Depression, unter der sie selbst auch gelitten hat: Aufzählung von Medikamenten, Auswertung psychologischer Tests usw. Inwieweit hat dieser biografische Aspekt Einfluss auf deine Arbeit gehabt?
Das hat für mich keine so große Rolle gespielt. Ich wollte kein Stück über ihre Erkrankung im Besonderen schreiben. Es ist ein Stück, das jeden ansprechen soll. Obwohl die Kondition der Krankheit und die Uhrzeit 4 Uhr 48, die schon im Titel des Stückes zu finden ist und zu der Sarah Kane ihre wohl klarsten und produktivsten Momente erfahren hat, mit Sicherheit zu der eindrücklichen Sprache, Themenwahl und konkreter Ausdrucksfähigkeit beigetragen haben.

Sind psychotische Zusammenbrüche »typische« Themen für eine Oper?  
Natürlich. Die Operngeschichte ist voll davon! Vor allem Frauenfiguren erleben in der Oper immer wieder diese Zustände. Oft z.B. sind heftige emotionale Reaktionen, das Wahrnehmen auswegloser Situationen, Wahnsinn und sogar Selbstmord Reaktionen auf den Druck von außen – und berühren das Publikum unmittelbar. Sie sind oft Teil eines größeren Handlungszusammenhangs, in »4.48 Psychose« stehen diese Zustände jedoch im Mittelpunkt und sind sozusagen die einzige »Handlung«. Ich wollte kein Stück über das Patriarchat schreiben und deshalb sollten nur Frauen auf der Bühne vorkommen. Bei der Uraufführung 2016 in London haben wir sogar versucht, dass auch das Orchester ausschließlich aus Frauen besteht, das hat aber nicht ganz geklappt. Es gibt zwei solistische Schlagzeugparts in meinem Stück, die wie Spiegelbilder der sechs Frauen auf der Bühne sind. Diese sollten im Idealfall von zwei Frauen gespielt werden. Die Anzahl der Sängerinnen kam durch die Wahrnehmung zustande, dass mir drei (Anzahl der Darsteller in der Schauspieluraufführung) zu wenig waren und ich mir mit sechs verschiedenen, individuell zu hörenden Stimmen eine Art dramatische Polyphonie vorstellen konnte. Es geht nicht um Geschlechterrollen in meinem Stück, auch wenn Kane selbst in ihrem Text damit spielt. Zusätzlich einen Mann auf der Bühne zu haben, wäre mir in der Konstellation zu realistisch und zu eindeutig gewesen. Ich wollte gern auch in dieser Hinsicht mit der unklaren Grenze zwischen Fantasie und Realität, was geschieht im Kopf und was außerhalb, spielen. 

Wie sah die praktische Kompositionsarbeit, die Struktur und Anlage der 24 Szenen aus?  
Nach neun Monaten der intensiven Beschäftigung ausschließlich mit dem Text, Recherchearbeit über die Theaterstücke und -themen der 1990er Jahre, Gesprächen mit Simon Kane und Freundinnen von Sarah Kane habe ich mich an die Komposition gesetzt. Ich hatte fast ein Jahr mit dem Text gelebt – ohne zu komponieren – und entwickelte eine Art Intuition für den Weg. Und als ich mit der Kompositionsarbeit begann, hatte ich schon fast alle Ideen entwickelt und die Dramaturgie lag klar vor mir. Dabei haben neben atmosphärischen Fragen manchmal durchaus auch pragmatische Probleme wie das Unterbringen der ungeheuren Textmenge eine Rolle gespielt. Linear komponiert hätte ich diese niemals in einem 90-minütigen Abend unterbringen können. Ich habe also mit verschiedenen Ebenen von Text gearbeitet und oft überlagern oder ergänzen sich nun z.B. aufgenommener gesprochener und live gesungener Text. Und dadurch haben sich wiederrum neue inhaltliche Ideen wie die Form der aufgenommenen Nachrichten (an das eigene Selbst) oder Teile der Erinnerung, die bis zum Ende durchgezogen werden, entwickelt. Ich habe auch nicht ausschließlich der Reihenfolge nach komponiert, sondern Szenen mit ähnlicher Atmosphäre oder Ausrichtung wie die psychologischen Zahlentests in einem Arbeitsprozess zusammengefasst. Nur die letzte Szene, die ist wirklich am Schluss entstanden. Ich hatte das Gefühl, dass ich das erst komponieren kann, wenn alles andere gesagt ist. 

Entspricht dieses vielschichtige Vorgehen deiner üblichen Arbeitsweise? 
Tatsächlich interessieren mich immer vor allem die unterschiedlichen Formen von Text und ihre Verbindung zur Musik. Sarah Kane hat die Schichten ihres Textes schon in der grafischen Anordnung auf dem Papier angegeben. Sie hat in »4.48 Psychose« mit insgesamt 14 verschiedenen Maßen an Texteinzügen gearbeitet. Diese Vielschichtigkeit sollte auch die Grundstruktur meiner Komposition sein, ich wollte die Polyphonie des Textes auch in die Musik übernehmen. Zusätzlich habe ich noch andere musikalische Elemente wie einige Fragmente von Johann Sebastian Bach oder die Fahrstuhl-Musik mithinzugenommen. Zusätzlich gibt es noch z.B. Dialogteile, die weder gesprochen noch gesungen, sondern von zwei Perkussionistinnen hörbar und über Textprojektionen lesbar gemacht werden. 

Wie fügen sich die zusätzlichen musikalischen und formalen Elemente in deine Komposition ein? 
Die Szenen des Stückes haben in meiner Dramaturgie alle eine Grund-Atmosphäre, ein bestimmendes Gefühl und ich habe für jede davon nach einem speziellen Ausdruck gesucht. Was die Einfügung von Bach in meine Komposition betrifft, war es eine Szene aus der Oper »Begehren« des österreichisch-schweizerischen Komponisten Beat Furrer, die mich für die Vertonung einer Szene in Kanes Text, die sich mit der Präsenz oder Absenz Gottes beschäftigt, inspiriert hat. Ich wollte eine Szene mit einer religiösen Vision schreiben und das »Agnus Dei« aus Bachs h-Moll Messe erschien mir die richtige musikalische Ergänzung zu meiner Komposition zu sein. Ein weiteres musikalisches Element, das genau das Gegenteil von großer Nähe oder Hinwendung erzeugen soll, ist der Einsatz von ›Muzak‹, der berühmten Hintergrund- oder Fahrstuhlmusik. Man findet sie in vielen meiner Werke. Der lockere Rhythmus, die Leichtigkeit und Gleichgültigkeit der Komposition stehen im Gegensatz zu allem, was ernsthaft und tiefgründig ist. Ich setze ›Muzak‹ in »4.48 Psychose« ein, um Distanz zu schaffen z.B. zwischen dem tiefen, berührenden Inhalt der Worte und einer banalen Situation, wie z.B. in einem Wartzimmer zu sitzen. Sarah Kane hat in einer anderen Szene etwas über die Liebe, über große Nähe geschrieben und die Verzweiflung darüber, das geliebte Objekt nicht erreichen zu können. Ich wollte aus ihrem Text ein Liebeslied machen, einen Love-Song dessen Art uns sofort durch seine einfache schöne Melodie anspricht, bevor weitere musikalische Ebenen die Harmonie der Melodie beinah »ertränken«. Es ist dann kaum noch zu hören. Ich verwende über diese Elemente hinaus auch Geräusche und einzelne Töne, um die Atmosphäre für eine bestimmte Situation zu schaffen und bewege mich so musik-dramatisch durch das Stück.

Die Semperoper hat dir den Auftrag für die Übertragung deiner Oper auf die deutsche Fassung des Schauspiels von Durs Grünbein gegeben. Jede Sprache ist einzigartig in Duktus und Ausdruck. War es schwer deine Komposition in eine andere Sprache zu übertragen?  
Die Übertragung ins Deutsche war natürlich eine Herausforderung, weil die Verteilung der Silben und auch die Betonung der Worte eine andere ist. Aber es hat gut funktioniert und ich habe an vielen Stellen die Muttersprachler nach der Betonung gefragt und so Stück für Stück das Werk übertragen können. Mir ist wichtig, dass das Publikum mein Stück direkt versteht und das Gehörte sofort eine Wirkung zeigen kann. Oft ist es in der Oper kompliziert, weil man die Worte nicht immer versteht, aber ich mische in meinen Stücken auch deshalb immer wieder Passagen gesprochenen Textes mit ein, um eine direkte Ansprache zu ermöglichen. 

Mit Philip Venables sprach Juliane Schunke für das Programmheft von 4.48 Psychose. Verwendung mit freundlicher Genehmigung der Semperoper Dresden.

Photo: Semperoper Dresden/Ludwig Olah