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Mit Georg Friedrich Haas in Matera

Mit Georg Friedrich Haas in Matera

Mein schönstes Konzerterlebnis: mit G.F. Haas in Matera

Sechs maßgeschneiderte Konzert an sechs Orten einer historischen Stadt: Im September 2019 stand Georg Friedrich Haas im Zentrum eines außergewöhnlichen Musikereignisses. Dr. Silke Hilger, General Manager von Ricordi Berlin, hat den Komponisten nach Italien begleitet und schildert ihre Eindrücke im Reisebericht.

Matera (im südöstlichen Italien gelegen) ist eine Reise wert. Nicht umsonst gehört sie als eine der ältesten Städte Europas zum Unesco Welterbe und ist die europäische Kulturhauptstadt 2020. Wenn ein Besuch in Matera gekoppelt wird mit einem fünfeinhalb stündigen Konzertereignis, das sich durch die ganze Stadt zieht, wird es zu einem unvergesslichen Erlebnis und damit zu meinem schönsten Konzerterlebnis.

Die Anreise war wider Erwarten einfach: ein Flug nach Bari, eine einstündige Busreise und schon ist man da: atemberaubende Kulisse auf die alte Stadt, deren wie von einem Kubisten in einen Berg gehauene Häuschen (genannt Sassi) und Gässchen pittoresk jenseits aller Worte sind. Darin herumzulaufen bedarf festen Schuhwerks und guter Kondition. Es geht über hunderte von unebenen Stufen und Steinen in immer wieder andere Winkel und Aussichtspunkte, die den Blick ins Tal und auf die gegenüber gelegenen Höhlen freigeben, die bis ins letzte Jahrtausend noch bewohnt waren. Hier ist alles noch unberührt und Restaurants oder Hotels fügen sich fast unbemerkt in das historische Umfeld ein. Bis auf Straßenverkäufer von kleinen nachgebildeten Reliefs der Sassi gibt es keinen Kommerz.

Der visionäre artistic director von LAMS (Laboratorio Arte Musica e Spettacolo) Giovanni Pompeo wusste genau mit welcher Veranstaltung er seiner Stadt Matera im Jahr 2019 eine Ehre erweisen konnte, nämlich indem er Georg Friedrich Haas einlud, ein Gesamtwerk zu schaffen, das die Einzigartigkeit dieser Location widerspiegelt. Nach einem Begehungsbesuch im letzten Jahr, während dessen Haas die Stadt mit all ihren Facetten und diversen Lokalitäten kennenlernen konnte, wurde im Laufe eines langen und kreativen Prozesses das Konzept geboren: sechs Konzerte an sechs verschiedenen ikonischen Orten, zu sehen, zu hören und zu genießen im Verlauf von fünfeinhalb Stunden. 

Beginn um 6:30 pm

Station 1: Piazetta Pascoli, der Platz vor dem Palazzo Lanfranchi (Kunstmuseum)

MATERA PER SEMPRE: MARCIA DISCENDENTE – MARCIA ASCENDENTE

Eine Blaskapelle – wie sie in Süditalien sehr verbreitet und beliebt sind – nimmt Aufstellung, spielt ein paar Takte und setzt sich dann in schnellem Tempo in Richtung Piazza San Giovanni fort und wieder zurück, dabei den sogenannten Aufsteigenden bzw. den Absteigenden Marsch spielend. Keinesfalls dissonant klingend, da zum Teil auf Gesualdo basierend, aber eben auch nicht maskulin und militärisch. Die Banda wird noch den ganzen Abend mit dieser Musik durch die von vielen Menschen bevölkerte Stadt ziehen.

Picture of a marching wind band during the day
Piazzetta Pascoli

Station 2: Im Palazzo Lanfranchini

INSTRUMENTAL SOUND INSTALLATIONS

In den ineinander übergehenden Räumen des Kunstmuseums, das Gemälde und Skulpturen lokaler Künstler ausstellt, sind die einzelnen Musiker platziert.

• Ein Fagott
• Eine Klarinette
• Ein Akkordeon
• Drei Hörner
• Zwei Susaphone
• Eine Viola (im begrünten arkadischen Innenhof)
• Sechs Schlagzeuger in einer unterirdischen schwer begehbaren Höhle

Die Zuschauer/Zuhörer wandeln durch die einzelnen Räume, den Garten, steigen die tiefen Stufen in die Höhle hinab und wieder hinauf, begleitet von den unaufhörlichen Klängen der einzelnen Instrumente, die sich in den Übergängen von einem Raum zum andern erst vage und dann mehr vermischen, bis wieder eine Klangtrennung herrscht. Genauso mischt sich das Auditive mit dem Visuellen. Im Museum ist ein Fenster eingelassen, das wie ein Rahmen das Bild auf die bereits im Dunkeln liegende malerische Stadt freigibt. Zwei Stunden spielen die Musiker aus einem Reservoir für sie komponierter Musik, so dass keine Minute wie die andere klingt.

Picture of cave at Palazzo Lafranchi
Palazzo Lafranchi

Station 3 (Zwischenstation) in der via Cappelluti

DRUMS IN THE IPOGEI

Haas hat zum Gedenktag der acht dem Nationalsozialismus zum Opfer gefallenen Materaner (21. Septemer 1943) einen speziellen Trauermarsch geschrieben, der von der Banda am genauen Ort des Verbrechens zum Erklingen gebracht wird. Passanten bleiben betroffen stehen und lauschen dieser unerwarteten Demonstration der Trauer und des Erinnerns

Picture of Matera, Italy
Blick auf Matera

Station 4: Hypogeum di San Agostino

3 GRAND PIANOS, EACH TUNED AT SIXTH-TONE APART

Drei sechsteltönig gestimmte Flügel mit sechs Pianisten. Minutenlange heftige und perkussive Cluster in den tiefen Registern – so fängt es an. Die erzeugten Schwingungen schweben im Raum und bringen so viele Resonanzen hervor, dass man nicht mehr an Klaviere denkt, die hier die Töne erzeugen. Man gerät in einen Taumel, der bis an die Schmerzgrenze führt. Auch für die Spieler, die gute Armmuskeln brauchen. Nach einer Weile kehrt Ruhe ein und nun werden in den oberen Registern zarte Arpeggios gespielt, die durch die sechsteltönige Stimmung ihr sonst leicht engelhaftes Klischee verlieren und einen Kontrast zu den später einsetzenden rhythmischen Clustern bilden.

Picture of pianists playing at Hypogeum of San Agostino
Hypogeum di San Agostino

Station 5: Die daneben gelegene Kirche San Agostino

MEANTONE ORGAN AND STRING OCTET

Streichoktett mit Orgel im Halbdunkel. Vor dem Altar sind im Halbkreis die Streicher angeordnet, auf der Empore darüber die Orgel, die in regelmäßigen Abständen Akkorde in den Streicherteppich hereinspielt und diesem jedes Mal eine neue Qualität verleiht. Eine meditative Atmosphäre in diesem sakralen Raum, die jedoch Ach- und Wachsamkeit in jeder Sekunde verlangt.

Picture of a string quartet playing at the Church of San Agostino
Kirche San Agostino

Station 6: Casa Cava

11° STRING QUARTET IN THE DARKNESS

Ein kleiner in eine der alten Höhlen eingelassener moderner Kammermusiksaal. Das 11. Streichquartett (für eine Violine, eine Viola und zwei Celli) wird in totaler Dunkelheit gespielt. Alle Lichter gehen aus, was schon ein wenig mulmig macht. Bei den leisen mikrotonalen Streicherklängen tritt schnell Entspannung und totales Einlassen auf die neue Klangwelt ein. Auch für die Spieler eine Herausforderung, die sie hinterher nicht genug loben können. Nach dieser Spiel – und Hörerfahrung ist nichts mehr so wie vorher.

Casa Cava


Ende um 24:00

Nichts als Freude und Gelächter ob des gelungenen Abends bis früh in den Morgen, bevor es am nächsten Tag wieder in den Alltag geht. Eine konzeptionelle und logistische Hochleistung von Giovanni Pompeo, dem künstlerischen Direktor und den Musicisti dell’Orchestra die Matera e della Basilicata. Es wurden Freundschaften geschlossen, künstlerisch neue Erfahrungen gesammelt, Pläne für die Zukunft geschmiedet.

Die Erinnerungen werden für immer nachklingen.

Nota bene: hier gilt nicht das Motto: Don’t try this at home.

Text: Dr. Silke Hilger






Fotos: LAMS (Piazzetta Pascoli, Palazzo Lafranchi, Hypogeum of San Agostino, Church of San Agostino, Casa Cava), Dr. Silke Hilger (view of Matera)