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Sarah Nemtsov und das Musiktheater

Sarah Nemtsov und das Musiktheater

Sarah Nemtsov hat über 100 Kompositionen in nahezu allen Gattungen geschrieben: vom akustischen Solo bis hin zu großem Orchester und multimedialen Werken, darunter zwei abendfüllende Opern und drei Kammeropern, sowie andere Formen an der Grenze zum Musiktheater. Bis 2024 steht die Arbeit an zwei Opernaufträgen für zwei größere Häuser in Deutschland an. 2012 erhielt sie den Nachwuchspreis der GEMA, 2020 ist sie für den Musikautorenpreis in der Kategorie Musiktheater nominiert.

Umringt von Gemälden, Musik und Literatur wuchs Sarah Nemtsov in einer häuslichen Umgebung auf, in der die Künste einander auf geradezu osmotische Weise durchdrangen. Ihre Mutter, die Malerin Elisabeth Naomi Reuter, war zugleich sehr musikliebend, Musik war auf eine ebenso selbstverständliche Weise präsent in Sarah Nemtsovs Kindheit, wie die Malerei und die Literatur. Das öffnete der heranwachsenden Musikerin und Komponistin von Kindheit an den Blick für ihre Vision einer Kunst, die über die engen Gattungskonventionen hinausdrängt. Ihr Verhältnis zur Oper beschreibt Sarah Nemtsov, die mit ihren Bühnenwerken bereits einen sehr eigenwilligen und innovativen Beitrag zum aktuellen Musiktheater geleistet hat, interessanterweise dennoch als gespalten. Die Oper als Gattung erschien ihr oft festgefahren und verstaubt. Zu maskenhaft schien ihr in vielen Fällen der Gesang, zu oberflächlich die Addition von Musik, Gesang, Bühne und Handlung. Umso mehr reizte sie jedoch die Herausforderung – jenseits von Konventionen, die die Musik in eine mehr oder weniger dekorative Nebenrolle drängen – die immensen Möglichkeiten einer genuin musikalischen Dramatik zu erforschen. Literatur, szenische und visuelle Momente spielen auch in Sarah Nemtsovs konzertanten Werken oft eine wichtige Rolle. 2010/2011 entstand der inszenierte Kammermusikzyklus „A long way away. Passagen”, in dem musikalische und visuell-dramatische Momente einander durchdringen. 2018/2019 folgte das Orchesterwerk „en face“ nach der Erzählung „Einsamkeit“ von Bruno Schulz, in dem ein Solo-Schlagzeuger und ein Schauspieler den musikalischen Ausdruck ins Szenische hinein erweitern. Wichtig ist Sarah Nemtsov, dass alle ihre musikdramatischen Werke auch ohne Text und Szene auf der genuin musikalischen Ebene „funktionieren müssen“, wie sie es ausdrückt. Und gerade dieser Anspruch verhilft ihr dazu, mit ihren Musiktheaterwerken jener Vision nahe zu kommen, die sie als Komponistin antreibt: In der Oper könne man „größer träumen“, sagt sie, und die Menschen dadurch auf eine intensivere, alle Sinne zugleich ansprechende Weise erreichen, als es auf dem Konzertpodium möglich sei.

Paul Celan und Herzland

Da überrascht es nicht, dass Sarah Nemtsov das Sujet für ihre erste Oper Herzland förmlich über Nacht kam: Sie hatte einen Traum. Es war im Jahr 2004. Sarah Nemtsov stand kurz vor dem Abschluss ihres Studiums in Hannover, als sie die Anfrage erreichte, für ein studentisches Projekt eine Kammeroper zu komponieren. Das vorgegebene Motto lautete „Liebestod“, aber mit den naheliegenden Assoziationen an Richard Wagners „Tristan“ konnte sie als Komponistin herzlich wenig anfangen. Seit frühester Jugend hatte sie hingegen das Leben und die Dichtungen des ostjüdischen Lyrikers Paul Celan, dessen 100. Geburtstag am 23. November 2020 zu feiern ist, bewundert. Celans Texte hatten Sarah Nemtsov, angeregt nicht zuletzt durch ihr eigenes Judentum, bereits in zwei Jugendwerken beschäftigt. In jenem Traum erschien ihr nun die Idee, den gerade in einer neuen Übersetzung erschienenen Briefwechsel Celans und seiner Frau, der Künstlerin Gisèle Celan-Lestrange, zum Thema ihrer Oper zu machen. Tief berührt war sie von der tiefen, aber von tragischen Lebensumständen verdunkelten Liebe dieser beiden Künstler vor dem Hintergrund des Horrors der Schoah. Die zeitversetzte Dialogsituation des Briefwechsels bot ihr den dramatischen Ausgangspunkt für ihre Kammeroper. Celan hatte beide Eltern durch den Rassenwahn der Nationalsozialisten verloren. Sein Vater war nach der Deportation in einem Zwangsarbeiterlager an Typhus gestorben, seine Mutter wurde im Lager von einem SS-Mann erschlagen. Celan selbst überlebte, schwer traumatisiert, Ghetto und Zwangsarbeit.

Zwei dramatische Ereignisse in der Beziehung von Paul Celan und Gisèle Celan-Lestrange bilden die Handlungsachse der etwa 30 Minuten dauernden, in fünf Miniaturakte gegliederten Oper. Zweimal nämlich griff der verzweifelte Paul Celan in seinem Leben zum Messer: das erste Mal attackierte er seine Frau, die ihn daraufhin in eine psychiatrische Klinik einweisen ließ. Auch von dort aus setzten beide ihren Briefwechsel fort. Noch folgenreicher für die Beziehung beider sollte aber die zweite Messerattacke werden, die Celan gegen sich selbst richtete. Gisèle Celan-Lestrange entschied daraufhin, dass ein gemeinsames Leben fortan nicht mehr möglich sei. Dennoch blieben beide einander ein Leben lang eng verbunden.
Um die Handlungsachse der beiden Messerszenen am Ende des zweiten Akts und zu Beginn des vierten konstruierte Sarah Nemtsov in ihrer Oper eine kompositorisch höchst konzentrierte, zum Teil in sich rückläufige Form. Die musikalische Sprache verarbeitet auf ebenso strenge wie suggestive Weise Elemente aus der jüdischen Musik. So sind etwa die Gesangslinien auf verschiedenen Skalen aus der jüdischen Liturgie aufgebaut. Diese Modi (hebräisch: Nussachot) prägen auch die Harmonik der Komposition. Hinzukommen verschiedene Formmodelle aus der traditionellen Klezmermusik. Besonders fasziniert hat Sarah Nemtsov dabei der leicht hinkende Dreiertakt der alten Hora-Form. Das „Hinken“ entstehe, so erklärt sie, durch eine kleine rhythmische Lücke, die metaphorisch gesehen als ein Inbegriff des Scheiterns, als ein Stolpern betrachtet werden könne. Eine Paradoxie oder gegensinnige Mehrdeutigkeit ergebe sich daraus, dass es gerade diese rhythmische Unregelmäßigkeit sei, die der Form inmitten einer Tragik ihre tänzerische Leichtigkeit verleihe. Ein solcher Umschlag ist wiederum typisch für das von Grund auf dialektisch geprägte jüdische Denken, das noch in der existenziellsten Verzweiflung ein Klagen ins Lachen kippen lassen kann. Den Einfluss von Elementen aus der jüdischen Musik hat Sarah Nemtsov auch in ihrer zweiten, abendfüllenden Oper „L‘absence“, die 2012 bei Münchner Biennale uraufgeführt wurde, noch weitergetrieben und intensiviert.

Die für zwei Gesangsstimmen (Mezzosopran, Bariton), Flöte, Klarinette, Viola und Akkordeon geschriebene Oper Herzland erlebte 2006 in Hannover ihre Uraufführung. 2009 arbeitete Sarah Nemtsov die Oper für zwei Stimmen und Kammerorchester um. In dieser Fassung war das Werk u. a. in einer Neuproduktion der Bayerischen Staatsoper zu erleben.

Herzland (2005-2009)

Kammeroper in 5 Bildern nach dem Briefwechsel Paul Celan – Gisèle Celan-Lestrange
für 2 Stimmen (Mezzosopran, Bariton) und 4 Instrumente (Flöte, Klarinette, Viola, Akkordeon)
Dauer: 30‘
UA: 24.11.2009, München

Werktext

Die Kammeroper „Herzland“ habe ich mit 24 Jahren komponiert. Ich wollte in und an verschiedenen Stationen zeigen, wie sich die Beziehung von Paul Celan und seiner Frau Gisèle Celan-Lestrange entwickelt und wie sie – trotz tiefer Liebe und innigster Verbundenheit – zerbricht. Dabei war mein Ziel nicht, Paul Celan und seine Frau als Personen zur Schau zu stellen, vielmehr ging es mir darum, einen Konflikt aufzuzeigen. Die Beziehung zerbricht letztlich auch an der Geschichte, die vorbei ist, vergangen, aber eben doch nicht vorbei, sondern sich wieder und wieder schmerzhaft aktuell zeigt. Der Massenmord an den Juden, dem auch Celans Eltern zum Opfer fielen blieb zeit seines Lebens das Zentrum seines literarischen Schaffens. Deutsch war die Muttersprache Celans, sowie die Sprache der Mörder seiner Mutter. In Deutschland fand er seine primäre Leserschaft, immer wieder musste er sich dort aber auch mit Antisemitismus konfrontiert sehen. Das Judentum war in Celans Leben immerzu präsent, allerdings in dem ständigen Zwiespalt zwischen „Glauben-Wollen“ und „Nicht-Glauben-Können“.

Die jüdischen Themen sollten auch für die Musik bedeutsam werden, indem ich vielfach auf traditionelle jüdische Musik verwiesen habe – auf liturgische, sowie auf Volksmusik. Diese Sphären sind in der Gesamtform, in Melodik, Rhythmik und Harmonik untergründig quasi immer in irgendeiner Weise vorhanden. Mich reizte dabei auch die Idee der Verlorenheit von einer „Klezmer-Kapelle“ in einem Orchestergraben. Assoziativ verband ich das mit dem so oft als verloren, entwurzelt, heimatlos beschriebenen Paul Celan.
–Sarah Nemtsov

Partitur von Herzland




Sacrifice

Mitten im Herzen der Musik zu sitzen, den Klang nicht nur kontemplativ, gleichsam von außen, zu rezipieren, sondern sich als Hörer inmitten eines klangräumlichen Geschehens wiederzufinden, an dem man unmittelbar teilzuhaben scheint – diese Verschmelzungsutopie hat Komponisten quer durch die Jahrhunderte immer wieder dazu getrieben, sich Raumkonstellationen zu schaffen, die dieser Klangvision entgegen kamen. In ihrer für das Theater Halle komponierten Oper Sacrifice ging Sarah Nemtsov 2016 dagegen den umgekehrten Weg. Die Komponistin war mit einem konkreten und höchst speziellen Raum konfrontiert – der von Sebastian Hannak entworfenen Raumbühne HETEROTOPIA – und mit dieser Bühne im Kopf begann sie ihr Werk zu komponieren. Die Partitur der Oper gibt einen dieser konkreten Bühne angepassten räumlichen Aufbau als zwar nicht einzig mögliche, aber doch ideale Aufführungsbedingung an: Das Publikum ist in der Mitte platziert, während das szenische und musikalische Geschehen um die Zuschauer herum stattfindet. Das Publikum sitzt auf der immer wieder rotierenden Drehbühne und wird von Szene zu Szene während der knapp zwei Stunden dauernden Aufführung unablässig durch den Raum bewegt. Das Orchester hat seinen Platz auf dem abgedeckten Orchestergraben. Die Musik überrascht den Zuschauer jedoch durch die eingesetzte Elektronik auch immer wieder aus sämtlichen anderen Richtungen des Raums. Ebenso gibt es nicht nur einen Schauplatz des Geschehens, sondern mindestens vier, streng genommen sogar fünf, denn auch das Publikum gerät am Ende in den Fokus. Bisweilen weiß man nicht genau, wer hier wen beobachtet.

Die solchermaßen in mehrere Richtungen aufgesprengte Perspektivität der Bühnenkonstruktion schlug sich unmittelbar in der kompositorischen Struktur nieder. Auch der kompositorische Raum von Sacrifice wird in eine Multiperspektivität aufgefächert. Anstelle der mehr oder weniger linearen Vertonung eines Textes suchte Sarah Nemtsov eine für ihr Komponieren neue Simultaneität der Ereignisse. Diese war zugleich nicht nur eine Reaktion auf den Raum, sondern sie ergab sich auch unmittelbar aus dem Sujet. „Mich interessiert eine offene, zeitgenössische Form – die als Reaktion auf unsere eigene diskontinuierliche und fragmentierte Erfahrung entsteht und unaufhaltsam an Komplexität gewinnt“, erklärt sie dazu.

Das Thema der Oper, für die der Dramatiker Dirk Laucke ein Libretto schrieb, sind die gesellschaftlichen und politischen Umwälzungen im Zuge der sogenannten Flüchtlingskrise von 2015. Es geht um Radikalisierung, um IS-Terror, den erstarkenden Rechts-Populismus in Europa und um den gesellschaftlichen und medialen Umgang mit dem Zustrom von geflüchteten Menschen aus den Kriegsgebieten. Als Ausgangspunkt diente eine reale Geschichte, die 2014 wochenlang durch die Zeitungen ging. Zwei deutsche Mädchen aus dem sachsen-anhaltischen Sangershausen zogen nach Syrien in den Dschihad. Die Oper fragt: Was treibt zwei Mädchen aus der Mitte der Gesellschaft dazu, einen brutalen Krieg führen zu wollen, der eigentlich nicht der ihre ist? Was muss im Kopf einer beliebten und erfolgreichen Schülerin passieren, damit sie ihr behütetes Leben aufgibt, um sich mit einem archaischen Fanatismus zu identifizieren, und davon zu träumen, anderen Menschen den Kopf abzuschlagen? Das Thema reicht jedoch weit über den konkreten Hintergrund hinaus. Es geht ganz grundsätzlich um die verschiedenen Tendenzen und Äußerungsformen einer gesellschaftlichen Fanatisierung und Verrohung.

Der Titel Sacrifice bezieht sich auf ein afghanisches Märtyrergedicht, das den Taliban zugeschrieben wird und dessen englische Übersetzung Dirk Laucke im Internet entdeckt hatte. Die Vertonung der verschiedenen Strophen des Gedichts erstreckt sich als ein in Metamorphosen wiederkehrendes Element über die vier Akte der Oper. Die Strophen beginnen jeweils mit einem euphorischen „May I be sacrificed“ – „Möge ich geopfert werden“ – und schwören den Adressaten dann auf die Schönheit des Heimatlandes ein, für die er sich opfern soll. Es ist ein unerträglich poetisierter Aufruf zur Gewalt, den dieses Gedicht formuliert, eine vollständige Perversion des Schönheitsbegriffs. Jana und Henny, wie die zwei Sangershausener Mädchen in der Oper heißen, singen dieses Sonett in den ersten drei Akten jeweils variiert im Duett. Im letzten Akt hat sich Henny zur Umkehr entschlossen. Hier singt nur noch Jana diesen Text und sie tut es in einer gleichsam ent-individualisierten, mechanisiert-ausdruckslosen Weise in sehr hoher Stimmlage. Henny dagegen findet in ihrer Arie „Alive“ auch stimmlich zu einer neuen, bewusst erlebten Freiheit.

Außer den beiden lyrischen Sopranistinnen Henny und Jana tritt noch ein Paar auf, schlicht Frau (dramatischer Sopran) und Mann (Bass) genannt. Ein lyrischer Bariton verkörpert den Syrien-Flüchtling Azuz, dem die Traumata die Sprache geraubt haben. Er stammelt und stottert seinen Text, spuckt Laute aus, verschluckt sich an den Silben. Zwei Schauspieler und eine Schauspielerin verkörpern Journalisten, die an einer europäischen Außengrenze über ethische Fragen der Darstellbarkeit und Vermittelbarkeit des täglich beobachteten Grauens debattieren. Ihre abgehobene, staccato gesprochene Sprache stellt einen befremdenden Kontrast zur expressiven Unmittelbarkeit der Musik dar: Das Denken scheint sich von der Realität erschreckend weit entfernt zu haben. Eine wichtige Rolle spielt in der Oper auch ein „stummer Chor“: Statisten, die als Menschenmasse unablässig unterwegs sind. Man hört und spürt ihre unheimliche Präsenz, die jedoch nicht näher definiert wird.

Ausschnitte von Sacrifice ansehen



Den vier Akten entsprechen vier imaginäre Orte an den vier Seiten rings um die Drehbühne. An dem „Küche/Pension/Heim“ genannten Ort, entzweit sich das namenlose Pärchen an der politischen Situation. Die Stimmen von Mann und Frau werden dabei mit einer Software für automatische Tonhöhenkorrektur („auto tune“) nivelliert und zurecht geschliffen. In der Uraufführungsinszenierung von Florian Lutz war „Küche/Pension/Heim“ ein aus vielen Wohnzellen bestehender, puppenhausartiger Gebäudekomplex, in dem der heimatliche Alltagshorror seine Fratzen zeigte. Im ersten Stock tobte eine dekadente Sex- und Drogen-Party mit Hawaii-Kostümen, im Apartment nebenan fläzte sich ein arrogantes Yuppie-Pärchen vor dem Flachbildschirm. Im Erdgeschoss wohnten Mann und Frau: sie eine zunehmend nationalistischer gesonnene Hausfrau, die verbissen eine Deutschlandfahne bügelte, er ein engagierter Flüchtlingshelfer, der der Masse schutzsuchender Menschen die eigene Wohnung öffnete. „Grenze/Mauer/Abgrund“ heißt der unmittelbar hinter dem Orchester gelegene Bühnenraum. Hier wandelten sich in der Uraufführung die mit weißen Tüchern abgedeckten Sitzreihen des Saales und des Rangs zu Orten projizierter Sehn- und Fernsüchte: Jana und Henny träumen vom Nahen Osten. Noch bevor sie singen produzieren sie Klänge mit ihren Monotronen, kleinen Synthesizern, die sie wie Smartphones in den Händen halten. Ihre Videobotschaften von unterwegs werden später per Live-Kamera übertragen. Vor einer Alpenlandschaft, in der das schwarz-gelbe Logo der rechtsradikalen Identitären Bewegung wie eine Sonne aufgeht, ziehen an diesem Ort jedoch auch die völkisch gesonnenen selbsternannten Retter des Abendlandes vorbei. Und während Jana und Henny sich schon in einem alten Ford auf den Weg nach Syrien machen, strandet hier auch der Flüchtling Azuz orientierungslos zwischen den hinteren Sitzreihen. Auf der gegenüberliegenden Seite des Raumes flimmern im „Niemandsland/Nebel“ genannten szenischen Ort Schreckensbilder aus dem Syrienkrieg über eine riesige Leinwand. Immer wieder wird das Publikum dabei auch in die Perspektive eines Bomben- oder Drohnenangriffs gezwungen und blickt wie durch ein Fadenkreuz auf die Welt. Dem Wohnkomplex gegenüber befindet sich der szenische Ort der Journalisten: ein „Parkplatz am Rand Europas“.

Von Dirk Lauckes Libretto hat Sarah Nemtsov nur einen kleinen Teil tatsächlich vertont. Der Rest gerann sozusagen unmittelbar in Musik. Neben dem Plot der Oper, den der Text erzählt, generiert die Musik über die kompositorische Form noch weitere, simultan hinzutretende Erzählebenen. Zum einen sind es die Bewegungen des „stummen“ und meist auch unsichtbaren Chores durch den Raum, durch die eine zweite Bedeutungsebene hinzugefügt wird. Außerdem wird die Aktion in jedem Akt durch rein instrumentale Passagen angehalten, beziehungsweise unterbrochen, die Sarah Nemtsov „Klangbilder“ nennt, in Anspielung auf Walter Benjamins „Denkbilder“. Die Idee geht über die instrumentaler Zwischenspiele hinaus. Die „Klangbilder“ reflektieren oder kommentieren nicht nur das Geschehene, sondern sie etablieren eine neue, zusätzliche kompositorische Stimme.

Das romantische Orchester benutzt Sarah Nemtsov als Chiffre abendländischer Kunst. Sie konfrontiert es mit einer „Band“ aus Instrumentalsolisten mit Keyboard, E-Gitarre, Drumset, elektronisch verfremdeter Harfe und Klavier. Hinzu treten elektronische, zugespielte und mit verschiedenen Effekten live-elektronisch verfremdete Klänge. Angesichts dieser instrumentalen Besetzung erwartet man eine harte, ohrenbetäubend aggressive Musik. Mit bedrohlich geräuschhaften Klangentladungen fängt Sarah Nemtsovs Musik den Schrecken des Themas jedoch nur gelegentlich ein. Dann taucht in dem rauschenden Klangkontinuum, das ihre Musik gestaltet, das Heulen von Sirenen auf, oder harte Schläge im Orchester wecken die Assoziation rasch aufeinanderfolgender Detonationen. Vorherrschend ist jedoch weniger diese gelegentliche Brutalität des Klangs, als eine filigrane Kunst nahtloser Übergänge. Ingeniös bindet die Komponistin die unterschiedlichsten Texturen aneinander und lässt sie auseinander hervorgehen, als wollte sie die vielen Risse, die durch die bewusst gestaltete Disparatheit ihrer musikalischen Landschaft gehen, wenigstens im Kleinen, an den Rändern, kitten.

Sarah Nemtsovs Musik formt den Eindruck eines musikalischen Dauerstroms, der jedoch Heterogenstes mit sich reißt. In ihm gibt es nichts, an das man sich halten könnte: keine klar umrissenen Identitäten, deren Entwicklungen man verfolgen könnte. Zartes und Brutales, Bedrohliches und Verheißungsvolles begegnen sich, ohne dass ein Konflikt zwischen den verschiedenen Ausdrucksebenen letztgültig ausgetragen würde. Sie ergreift nicht wirklich Partei, sie gibt nicht vor, Konflikte zu lösen oder Antworten geben zu können. Im Gegenteil: Sie stellt den ästhetischen Raum, den sie generiert, sogar gelegentlich durch eine Ebene der bewussten Brechung in Frage. Eingeblendet werden etwa Zitate, in denen die Komponistin Zweifel formuliert, die während des Kompositionsprozesses aufgetaucht sind. Satztechnisch reicht die Spannbreite von mittelalterlichen Hoquetus-Techniken bis zu Anklängen an Rockmusik. Fein ziselierte Instrumentalklänge mischen sich mit live-elektronischen Raumklängen, aus den sensualistisch flirrenden Vokalisen der beiden Protagonistinnen wird man plötzlich wieder jäh hochgeschreckt durch unsublimiert wirkende Samples wie Nachrichtenfetzen, Geräusche, bedrohlicher Lärm. Manchmal sind Anklänge an Rock, Pop oder Jazzmusik zu erahnen, dann wieder Relikte des traditionellen Orchesterklangs.

Die Raumbühne HETEROTOPIA der Oper Halle ist in Sarah Nemtsovs Oper gleichsam einkomponiert worden – das Werk lässt sich daher ohne Verluste auch in einer anderen Aufführungskonstellation realisieren. Nicht nur die Handlung, sondern vor allem die Musik von Sacrifice ist es, die auf vielen Bühnen zugleich spielt. Sie findet zu einem eindringlichen Ausdruck für das reizüberflutete, tendenziell erinnerungslose Dauerrauschen der Gedanken in einer überfordernden Zeit, in der ein fanatisches und radikalisiertes Denken die mühsam errungene Humanität der Gesellschaft aufs Neue bedrohen.

Sacrifice (2016)

Oper in 4 Akten
2.2.2.2 - 1.2.2.1 - Hrf.E-Git.E-Klv.Klv.Electronik - 3Perc - 6.6.5.4.3
Dauer: 120‘
UA: 5.03.2017, Halle


Hier können Sie mehr Information über die Uraufführung von Sacrifice finden.

Partitur von Sacrifice






Text von Julia Spinola, Foto von Neda Navaee