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Nemtsovs En face in Cottbus uraufgeführt

Nemtsovs En face in Cottbus uraufgeführt

Den April eröffnete Sarah Nemtsov mit einem Paukenschlag, als ihr Doppelkonzert En face für Schlagzeug solo, Erzähler und Orchester am Staatstheater Cottbus zur Uraufführung kam. Die Premiere versammelte mit dem polnischen Perkussionisten Aleksander Wnuk und Schauspieler Jakob Diehl zwei prominente Solisten an der Seite von Felix Bender, der die zwei Abende am Pult des Philharmonischen Orchesters leitete. 

Nemtsov, die nach ihrer Zeit bei ricordilab 2016-2019 ihre Zusammenarbeit mit dem Verlag fortsetzen wird, stand zuletzt im Jahr 2017 auf dem Programm des Staatstheaters Cottbus. Als Preisträgerin von ricordilab erhielt Sie einen Kompositionsauftrag für das Orchesterstück dropped . drowned. 2019 kehrt die Komponistin mit einem außergewöhnlichen Werk nach Cottbus zurück, das sie selbst als „ein ziemliches Experiment“ beschreibt. 


En face (2018)

für großes Orchester mit Solo-Schlagzeug und Schauspieler/Sprecher
zu der Erzählung "Einsamkeit" von Bruno Schulz
Perc.Sprecher - 3.3.3.3/4.3.2.1/Klav/Hrn/3Perc/ 12.10.8.6.4
UA: 05.04.2019 Cottbus
Dauer: 25'


Picture of Aleksander Wnuk playing Nemtsov 'en face' in Cottbus
UA von Nemtsovs En face, Cottbus 2019

Pressestimmen

Das Ereignis war mehr als pure Musik, es war aufregendes Hör-Theater […] Nemtsov hat einen halbstündigen Klangrausch für das solistische sowie das Orchester-Schlagwerk komponiert, der der Sprecher und die übrigen Orchesterinstrumente mit aller Kraft standzuhalten suchten. Man hörte Texte sowie Motiv- und Melodiefragmente, aber das extrem energiegeladene Schlagwerk überwältigte alles. Die große Trommel im Orchester, die vielen klingenden Gegenstände im Zimmer des sensiblen und hochkonzentrierten Solisten – man hörte und sah und staunte und applaudierte freigiebig.
Lausitzer Rundschau, 9 April 2019
 

Werktext

„Wie ich aussehe? Manchmal sehe ich mich im Spiegel. Das ist komisch, lächerlich und schmerzhaft. Ich schäme mich, es zuzugeben. Ich sehe mich niemals en face, von Angesicht zu Angesicht. Doch etwas tiefer, etwas weiter entfernt, dort stehe ich, im Inneren des Spiegels, etwas seitlich, etwas im Profil, ich stehe nachdenklich da und blicke zur Seite. Reglos stehe ich da und blicke zur Seite, ein wenig nach hinten, hinter mich. Unsere Blicke tref¬fen sich nicht mehr. Wenn ich mich bewege, bewegt auch er sich, jedoch leicht abgewandt, als wüßte er nichts von mir, als sei er hinter die vielen Spiegel getreten und könne nicht mehr zurück. Es zerreißt mir das Herz, wenn ich ihn sehe, so fremd und gleichgültig. Das bist doch du, möchte ich rufen, du warst mein getreues Abbild, du hast mich so viele Jahre begleitet, und jetzt erkennst du mich nicht! Oh, Gott! Fremd stehst du da, schaust irgendwo hin zur Seite und scheinst in die Tiefe hineinzulauschen, auf ein Wort zu warten, das von dort kommt, aus der gläsernen Tiefe, als gehorchtest du einem anderen, als erwartetest du Befehle von irgendwoher.“
Aus: Bruno Schulz, „Das Sanatorium zur Sanduhr“, S. 270-273, Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG, München 2013, Lizensausgabe mit Genehmigung des Carl Hanser Verlags, © 2011 Carl Hanser Verlag, München – Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Hanser Verlags 

Als ich den Auftrag erhielt, ein neues großes Werk für das Philharmonische Staatsorchester Cottbus zu komponieren – als Doppelkonzert mit den Bezugspunkten Polen und Deutschland (Länderaustausch), war mir wichtig, dass diese Begegnung nicht nur an der Oberfläche stattfindet (in den Nationalitäten der Solisten), sondern dem Stück gewissermaßen eingeschrieben ist. Mir kam der polnisch-jüdische Schriftsteller Bruno Schulz (1892-1942) in den Sinn. Sein eindrucksvolles Werk zeugt von einer ganz eigenen, bildhaften und sinnlichen Sprache (mit der häufigen Bezeichnung „polnischer Kafka“ – auch wenn es durchaus Ähnlichkeiten und Verbindungen gibt – wird ihm sein unverwechselbarer Stil eigentlich abgesprochen). Seine Texte können dabei auch im Zusammenhang mit seiner Biographie und im Kontext seiner Zeit gelesen werden (so zeitlos die Texte sind), sie sind untrennbar mit seinen persönlichen Erfahrungen und den Erfahrungen mit Krieg und Zwischenkriegszeit verbunden. Schulz lebte die meiste Zeit in seiner Geburtsstadt Drohobycz, eine kleine Stadt nahe Lwiw (Lemberg), in deren Geschichte sich die Umwälzungen des 20. Jahrhunderts abbilden. Heute gehört sie zur Ukraine. Als Schulz geboren wurde, zu Österreich-Ungarn. Und zum deutsch besetzten Polen, als er starb. 1942 wurde er auf offener Straße von einem SS-Führer erschossen. Für meine Komposition wählte ich die Erzählung „Einsamkeit“. Der Ich-Erzähler spricht über seinen jahrelangen Aufenthalt in einem Zimmer, das er nicht verlassen kann. Spürbar werden die beklemmende Enge eines solchen Lebens, aufgeblättert die Folgen einer solchen erzwungenen permanenten Begegnung nur mit sich selbst: „Wie ich aussehe? Manchmal sehe ich mich im Spiegel. Das ist komisch, lächerlich und schmerzhaft.“ Dabei hat Schulz aber keine nur ernste, düstere Sprache, zum Teil geht es ins Groteske, Absurde und eine gewisse Leichtigkeit ist da, trotz der Schwere und Ausweglosigkeit. Die Kontraste machen den Text noch intensiver.

Picture of bows at Cottbus premiere of Nemtsov 'en face'
UA von Nemtsovs En face, Cottbus 2019

Ich wählte zwei Solisten, die einander „verzerrtes“ Spiegelbild sein sollten – als würde der eine den anderen imaginieren: Einen Schauspieler, der den Text rezitiert, an einem Tisch sitzend – und ein Schlagzeuger auf der anderen Seite. Das Schlagwerk bildet einen eigenen Raum mit Tür und Spiegel um den Schlagzeuger herum. Er ist quasi in einem Käfig, um ihn seine Instrumente und Objekte (darunter kaum klassisches Schlagwerk: vier Becken, ein Gong, ein Donnerblech, ansonsten Metallteile, Fragmente, selbstgebaute Chimes aus Schlüsseln und Glühbirnen, eine Tür, ein Spiegel, ein Fensterrahmen, Tassen, Flaschen und eine Menorah – der siebenarmige Leuchter – aus Messing, hier Symbol und Klangobjekt zugleich, mit Stein bespielt). Die Handlungsmöglichkeiten des Perkussionisten beschränken sich auf diesen Raum. Hier ist er geschützt und schutzlos zugleich. Er spielt nur mit seinen Händen, ohne Schlägel, nichts liegt zwischen ihm und den harten Oberflächen, die er schlagend, streichelnd, tastend berührt. An seinen Handgelenken sind Mikrophone befestigt – er zoomt gewissermaßen in die Klänge, in die Objekte, legt sie unters Mikroskop, lauscht mit den Händen in einer klingenden Choreografie. Die Hände machen nach dem Anschlag häufig extra Bewegungen, um Resonanzen einzufangen, zu verstärken, zu rhythmisieren – er spielt sozusagen teilweise in der Luft – Symbol auch für das Vakuum. Der Solist hat keine Schlägel (die übliche „Waffe“ eines Schlagzeugers), somit ist er auch deutlich unterschieden von den Schlagzeugern des Orchesters. Seine Hände werden Ohren, er nimmt alles überdeutlich wahr und ist darüber in seiner Intimität auf der Bühne verletzlich. Die Virtuosität ist also anderer Art, es ist eher ein innerer Raum und eine Virtuosität der Empfindsamkeit.

Der Schauspieler sitzt an einem Tisch. Auf seinem Tisch sind einige Bücher, Papier, eine Porzellantasse auf Untertasse. Ein Miniatur-Bühnenbild. Seine Sprache ist verstärkt, aber auch sein Tisch ist mit Kontaktmikro verstärkt, sodass der Schauspieler neben dem Rezitieren des Textes auch andere Geräusche macht, die sich aus seiner Rolle entwickeln. Wie der Schlagzeuger etwa zittert auch er mit der Tasse, knistert mit Papier, atmet und ist somit auch Musiker. Ich habe die Solo-Parts für Aleksander Wnuk (Schlagzeug solo) und Jakob Diehl (Darsteller) entworfen – und sie sind mit diesen beiden Künstlern kongenial besetzt. Das Orchester bildet eine eigenständige Größe, teils ist es Widerpart der Solisten, teils ihr Echoraum. Hin und wieder kommt es gar zum Kampf mit den Solisten, sie werden gleichsam „verschluckt“. Am Ende jedoch verlieren auch die Instrumente, das gesamte Orchester, den Boden unter den Füßen …
 
„Kein Zimmer ist derartig zugemauert, 
daß es sich mit einer solch vertrauten Tür nicht öffnen ließe 
— wenn nur die Kräfte reichen, ihm diese zu insinuieren.“ (Bruno Schulz)
—Sarah Nemtsov





Photos: Marlies Kross