wurde vom Ensemble PHACE unter Leitung von Nacho de Paz live zu einem Screening des Filmklassikers im Großen Saal des Wiener Konzerthauses uraufgeführt. Unter gleicher Besetzung war das neue Werk eine Woche später im Londoner Barbican Center zu hören, die deutsche Erstaufführung erfolgte Ende November beim Greatest Hits Festival der Elbphilharmonie Hamburg. Im neuen Jahr feiert Die Stadt ohne Juden in Tel Aviv mit Ilan Volkov und den Israel Contemporary Players Premiere, gefolgt von der französischen Erstaufführung in der Philharmonie de Paris, präsentiert vom Ensemble intercontemporain unter der Leitung von Matthias Pintscher.
Musik zum Stummfilm von Hans Karl Breslauer (1924)
für verstärktes Ensemble und Zuspielung
cbcl.tsax.tpt.trb.perc.egit.sampler.vla.vc.electronic
Uraufführung: 07.11.2018, Wien
Dauer: 87'
Aufführungen
7.11.2018 (WP)
PHACE, Nacho de Paz (Leitung); Wiener Konzerthaus
15.11.2018 (NP)
PHACE, Nacho de Paz (Leitung); Barbican Center London
28.11.2018 (NP)
PHACE, Nacho de Paz (Leitung); Kampnagel K6, Hamburg
5.1.2019 (NP)
Israel Contemporary Players, Ilan Volkov (Leitung); Cinemateque, Tel Aviv
15.3.2019 (NP)
Ensemble intercontemporain, Matthias Pintscher (Leitung); Philharmonie de Paris
29.3.2019
PHACE, Nacho de Paz (Leitung); Haus der Berliner Festspiele
24.9.2019
PHACE, Nacho de Paz (Leitung); Alte Oper Frankfurt
27.10.2019 (NP)
Studio for New Music, Igor Dronov (Leitung); Karo Kino, Moskau
22.1.2020 (NP)
KammarensembleN, Christian Karlsen (Leitung); Stockholm
13.2.2020
Ensemble Klang, Christian Karlsen (Leitung); Muziekgebouw aan 't IJ, Amsterdam
25.1.2021 (NP)
Grupo Enigma, Asier Puga (Leitung); Auditorio de Zaragoza
3.6.2021 (NP)
Talea Ensemble, James Baker (Leitung); DiMenna Center for Classical Music, New York
9.6.2021
PHACE, Nacho de Paz (Leitung); Oper Graz
14.6.2021
Grupo Enigma, Asier Puga (Leitung); Auditorio de Zaragoza
4.4.2022 (NP)
Mitglieder des Sinfonieorchesters Basel, Andrew Joon Choi (Leitung); Gare du Nord, Basel
5.4.2022
Mitglieder des Sinfonieorchesters Basel, Andrew Joon Choi (Leitung); Gare du Nord, Basel
21.9.2022 (NP)
Bit20, Christin Karlsen (Leitung); Garnizon Sztuki, Warschau
30.1.2023
Ensemble intercontemporain, Matthias Pintscher (Leitung); Walt Disney Concert Hall, Los Angeles
6.2.2023
Grazer Philharmoniker, Nacho De Paz (Leitung); Oper Graz
30.3.2023
Ensemble Unitedberlin, Nacho De Paz (Leitung); Konzerthaus Berlin
Die Stadt ohne Juden, UK-Erstaufführung in London
Pressestimmen
Was an diesem Abend im Konzerthaus zu erleben ist […] ist kein Stummfilm. Auch kein Stummfilm mit Musik. Vom ersten Moment an verschmelzen Ton und Bilder zum atmenden Organismus. Schon die Geräusche ziehen den Betrachter umstandslos hinein in diese bald 100 Jahre alte Welt voller Gehröcke, Hüte und dramatisch geschminkter Augenpartien. Zu Beginn bringt die Elektronik den ganzen Raum mit tiefem Brummen zum Vibrieren, beim Gottesdienst in der Synagoge erzeugen kreisende Sphärenklänge den Eindruck ferner, klagender Stimmen, als wiesen sie in die grauenhafte Zukunft voraus. Virtuos zitiert Neuwirth verschiedene Stile: Im Saxofon klingt Debussy an und in der Klarinette Schtetl-Wehmut, natürlich ist auch die alpenländische Volksmusik nicht weit. Neuwirths eigenwillige Handschrift und ihre hohe klangliche Sensibilität bleiben unverkennbar. Selbst auf den mitunter derben satirischen Witz des Films lässt sich die Komponistin ein, wo doch heutigen Betrachtern bei dem Thema leicht das Lachen im Halse steckenbleibt. Manches wirkt auf uns Nachgeborene wie Slapstick auf der Rasierklinge: Da versucht der stramm antisemitische Rat Bernart, gespielt vom unvergessenen Hans Moser, im volltrunkenen Zustand die Gartenpforte mit einer Zigarre zu öffnen. „Der Wiener trinkt, um zu vergessen“, sagt Neuwirth am Tag nach der Uraufführung. „Beim Vergessen wird eben auch vieles verdrängt. Besonders was die NS-Vergangenheit angeht.
Hamburger Abendblatt, 2.11.2018
Neuwirth stellt in ihrer Tonspur zu dem Stummfilm auf raffinierte, jedoch nie vordergründige Weise vielfältige politische und kulturelle Bezüge her. Sie schafft eine Balance zwischen dem Wissen um die spätere reale Tragödie, die in ihrem Sound stets den bedrohlichen Grundton angibt, der bitteren Ironie, mit der die Handlung vorangetrieben wird, der unfreiwilligen Komik, die dem Pathos der Stummfilmästhetik für heutige Betrachter stets innewohnt, und dem Bewusstsein dafür, dass die Gespenster der Vergangenheit derzeit so lebendig sind wie schon lange nicht. Die Brüchigkeit familiärer bürgerlicher Idylle und die latente Aggression einer betonten Volkstümlichkeit, die jederzeit in Gewalt umschlagen kann, sind unüberhörbar in die Komposition eingearbeitet und wurden vom Ensemble PHACE unter dem Dirigenten Nacho de Paz subtil umgesetzt. Ergänzt wird das Live-Tonmaterial durch Zuspielungen, die an jene von den Nazis fast ausgerottete jüdische Kultur erinnern, die der Film etwa in Synagogen-Szenen zeigt, oder Hans Moser förmlich wieder auferstehen lassen.
Tiroler Tageszeitung, 08.11.2018
Die Streitgespräche von Wirtshausgästen lässt die österreichische Komponistin von den Bläsern des Ensembles PHACE unter der Leitung von Nacho de Paz komödiantisch kommentieren. Die antisemitischen Äußerungen der Betrunkenen untermalt sie mit Jodlern. In den bedrohlich brodelnden Synthesizer-Teppich webt sie punktgenau Klänge ein, welche die Handlung kommentieren - wenn Sessel im Wirtshaus hinunterfallen und Gongs erklingen. Olga Neuwirth bringt Farbe in den Schwarz-Weiß-Film, indem sie Szenen, die das jüdische Gemeinschaftsleben abbilden, mit orientalischen Klängen und Klezmermusik untermalt oder die Instrumente untypisch einsetzt. Einmal lässt sie die Trompeten regelrecht schreien, dann wieder Trompeter in die Instrumente blasen, dass man an keuchende Dampfloks denkt.
Salzburger Nachrichten, 09.11.2018
Die Stadt ohne Juden, deutsche Erstaufführung in Hamburg
Über das Werk
The film – thought lost but discovered in 2015 in a Parisian flea market and digitally restored thanks to a crowdfunding campaign – is a dramatisation of a bitter satire of antisemitism by a Jewish journalist called Hugo Bettauer. His 1922 novel is set in a contemporary Vienna humbled by defeat in the first world war and collapse of the Habsburg Empire. Inflation and unemployment are soaring and politicians are looking for a scapegoat. “The people,” the chancellor announces in the film adaptation, “demand the expulsion of all Jews.” And Vienna’s 200,000 Jews are forced to emigrate.
“One of the most powerful scenes for me is of the Jews walking out of Vienna as it’s gathering dusk,” says Neuwirth, who is herself Jewish. “When I was writing the score, I had to suppress my rage or else the film would have had music which is just an expression of my fury.” Another unbearable scene shows trains loaded with Jews heading off to other European capitals and to Palestine. It’s hard not to see these trains as prefiguring other trains that would, within 20 years, take millions of Jews to Nazi death camps.
For all that Die Stadt ohne Juden is 94 years old, its revival in 2018 is resonant in an age of rising racist populism. “The parallels are plain: toxic language is begetting hatred, now as then,” says Neuwirth. “The chancellor is not initially an antisemite, but when he sees how well hating Jews plays with the masses, he seizes on the plan to throw them out.” She recalls what Auschwitz survivor Primo Levi said of the Holocaust: “If it happened once, it can happen again.”
The Guardian, 13.11.2018
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Die Stadt ohne Juden, UK-Erstaufführung in London
Partitur von Die Stadt ohne Juden
Photos: Mark Allan (Die Stadt ohne Juden, London); Daniel Dittus (Die Stadt ohne Juden, Hamburg)