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Fragile Reife – Zemlinskys Symphonie in d-Moll

Fragile Reife – Zemlinskys Symphonie in d-Moll

In “The Almonac“ stellt Henrik Almon, Library Manager bei Ricordi Berlin, ab sofort hörenswerte Werke aus dem schier unerschöpflichen Repertoire der Verlagsgruppe vor, die bislang auf den Spielplänen der großen Bühnen und Orchester eher seltener vorkommen.


Jetzt, wo sich der Berliner Spätsommer von seiner herben Seite zeigt, sich vor einem wolkenverhangenen Himmel die Bäume unter rauen Windstößen beugen und ich den morgendlichen Weg zur Arbeit eigentlich doch besser mit Jacke angetreten hätte, ist, so denke ich, ganz herbstlich gestimmt, eigentlich ein ganz passender Zeitpunkt, um mal wieder Alexander Zemlinsky die Ehre zu erweisen.

Kaum ein Text über die Musik Alexander Zemlinskys kommt aus, ohne einen kurzen Abriss seiner tragischen Biographie, die emblematisch für eine deutschsprachige Künstlergeneration steht, die durch die Wirren des NS-Regimes und des zweiten Weltkrieges ins Exil geflüchtet und dadurch auch oft der Vergessenheit anheimgefallen ist. Zemlinsky, der von Wien aus eine glanzvolle Karriere als Dirigent und Opernkomponist beginnt, die ihn bis 1933 über Prag nach Berlin führt, stirbt, vertrieben und vergessen, 1942 nach schwerer Nervenkrankheit und einem Schlaganfall im New Yorker Exil. Weltschmerz und Vergänglichkeitsbewusstsein als gängige Topoi der Spätromantik drängen sich hierbei geradezu auf: Man möchte meinen, bereits in den Frühwerken Zemlinskys eine unheilvolle Vorahnung seines späteren tragischen Schicksals aufzuspüren.

Passend zur latenten Melancholie über den schwindenden Sommer Berlins erweist sich mir in diesem Fall ein Jugendwerk Zemlinkys: Die Symphonie in d-Moll, vom gerade Zwanzigjährigen im Jahr 1892 komponiert und in Ihrer Gesamtheit im folgenden Jahr unter der Leitung von Johann Nepomuk Fuchs in Wien uraufgeführt, besitzt zwar von Grund auf durchaus eine dramatisch-zupackende Anlage, ihre ruhigen, lyrischen Momente zeugen jedoch von einem nach innen gekehrten Blick, in welchem das Zerbrechliche der Schönheit zu jeder Sekunde durchschimmert. Kommt nicht in den wundervoll zarten Seufzer-Motiven der Streicher des Seitenthemas im Kopfsatz eine stille Verwunderung über den mitleidlosen Lauf der Welt zum Ausdruck, in dem über dem Schönen stets bereits ein Hauch der Vergänglichkeit zu schweben scheint?




Spätestens im dritten Satz ist dann die Ähnlichkeit zu Gustav Mahler nicht mehr zu verleugnen: Elegisch wird hier der Welt abhanden gekommen: Der Beginn des Klarinetten- und Streicher-Solos im Piano baut sich im Verlauf von nur zehn Takten zu einer schwelgerischen Soundwand auf, in deren wiederholtem Auf- und Abschwellen man sich willenlos gefangen nehmen lässt.

Das Finale der Symphonie hingegen endet schließlich versöhnlich: Über Kaskaden von triolischen Wellenbewegungen in den Streicherstimmen entwickelt sich nun doch noch ein Dur-Thema im Fortissimo, ein kurzes aber rauschendes Finale, in welchem sich Zemlinsky schließlich mit dem Lauf der Welt im Einklang zeigt. Und wie passend, genau in diesem Moment lugt dann auch bei mir im Büro die Sonne wieder aus der Wolkendecke hervor.

Zemlinskys Symphonie in d-Moll ist definitiv eine Symphonie, die es bislang erst selten auf den Radar der größeren Orchester geschafft hat, obwohl sie in der Dichte ihrer musikalischen Themen und der Prägnanz des musikalischen Verlaufs durchaus das Zeug dazu hat, auf der großen Bühne zu begeistern. Aufgrund ihrer melodischen Eingängigkeit macht sie es ihren Hörern einfach, sich auf sie einzulassen und trotzdem wird sie auch nach intensiver Beschäftigung nicht langweilig.

Gerade bei kleineren Orchestern ist so die Zahl der Aufführungen in den letzten Jahren langsam aber stetig gewachsen. Die Zahl Ihrer Anhängerschaft dürfte sich demzufolge mehren, denn wen sie einmal gepackt hat, den lässt sie so schnell nicht mehr los.




Aus aufführungspraktischer Sicht besticht vor allem der kurzweilige zweite Satz, ein Allegro scherzando, durch rhythmische Finessen, bei denen einige überraschende Generalpausen bei unkonzentriertem Spiel durchaus für ein unfreiwilliges Solo sorgen können. Ansonsten ist das Werk ohne allzu große spieltechnische Hürden zu bewerkstelligen und auch die Orchesterbesetzung kommt ohne Zusatzinstrumente aus.

Alexander Zemlinskys Symphonie in d-Moll ist 1995 bei Ricordi in einer wissenschaftlich-kritischen Ausgabe von Anthony Beaumont erschienen und als Leihmaterial erhältlich.

Text: Henrik Almon

Symphonie in d-Moll (1892-1893)

Herausgegeben von Antony Beaumont
für Orchester
2.2.2.2 - 4.2.3.0 - Pk - Str
UA: Prag, 26.5.1995


Partitur von Zemlinskys Symphonie in d-Moll




Digitales Notenmaterial

Die Partitur und Stimmen der Symphonie in d-Moll sind jetzt auch digital bei nkoda erhältlich.
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Über den Autor

Henrik Almon ist seit 2013 für die Leihabteilung von Ricordi Berlin zuständig. Auf der Suche nach dem richtigen Notenmaterial wühlt er sich seitdem immer wieder durch die labyrinthischen Verästelungen zweihundertjähriger Verlagsgeschichte, quer durch Europa verteilte Notenarchive, analoge und digitale Datenbanken sowie kryptische Mitteilungen über versandte Paketzustellungen.

Vor seinem Leben bei Ricordi hat Henrik Almon rechtschaffen eine kaufmännische Ausbildung absolviert, bevor er sich in die akademischen Tiefen der Musik-, Medien und Literaturwissenschaft begab. Das Studium führte ihn von Weimar und Jena über Paris nach Brasilien, wo er einige Zeit als Klavierlehrer arbeitete. Anhaltende Begeisterung für brasilianische Komponisten mündete in seiner 2018 abgeschlossenen Dissertation zum Thema „Diskurse über Kunstmusik in Brasilien in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts“. Außerhalb von Ricordi spielt er nach wie vor inbrünstig Geige in einem der zahlreichen Berliner Uni-Orchester.


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Illustration: Marie Louise James