Inmitten der Ehrengräber des Wiener Zentralfriedhofs liegt auch das von Alexander Zemlinsky. 1985 wurde sein Leichnam von den USA, wohin ihn die Nazis 1938 aus seiner Heimatstadt Wien vertrieben hatten und wo er am 15. März 1942 verbittert starb, nach Wien überführt und dort bestattet. Neben all den imposanten Grabsteinen, die die Gräber Arnold Schönbergs, Franz Schmidts, Carl Michael Ziehrers usw. schmücken, musste sich Zemlinsky zehn Jahre lang mit einem schlichten Holzschild begnügen – als habe man das Grab vergessen wie einst den Komponisten.
Über Zemlinsky nachzudenken, heißt zumeist, an seinem Ende anzufangen. So typisch seine Rezeptionsgeschichte für das von Weltkriegen und Nationalsozialismus gezeichnete Jahrhundert zu sein scheint; bemerkenswert bleibt doch, wie unterschiedlich der am 14. Oktober 1871 geborene Komponist zu verschiedenen Zeiten beurteilt worden ist. Im Januar 1900 von Mahler an der Wiener Hofoper uraufgeführt, von seinem Schwager und Schüler Schönberg wie kein zweiter respektiert, als Musikalischer Leiter des Neuen Deutschen Theaters in Prag (1911-1927) gefeiert, unterlag Zemlinsky noch zu Lebzeiten den musikalischen wie politischen Zeitläuften. Er wurde verjagt und vergessen.
Dass eine posthume Würdigung bevorstand, war 1959 noch nicht absehbar – trotz des beherzten Essays, den Adorno in diesem Jahr via Rundfunk verbreitete. Erst 1974 kam es zu einer Personale beim „Steirischen Herbst“ in Graz, wo nicht nur zentrale Werke Zemlinskys erklangen, sondern auch ein Symposion abgehalten wurde, dessen lesenswerte Beiträge Zemlinskys Wiener Verlag, die Universal Edition, 1976 herausbrachte. Ein Jahr später erschien die erste umfassende Monographie über ihn von Horst Weber, der bis heute die Zemlinsky-Exegese stützt und inspiriert. Und als dann in den 80er Jahren Zemlinskys Hauptwerke ihr Publikum begeisterten – Sternstunden waren die Uraufführung der Oper Der Traumgörge 1980 in Nürnberg, die Operneinakter Eine florentinische Tragödie und Der Zwerg 1981 in Hamburg und die Einspielung der vier Streichquartette durch das LaSalle Quartett 1982 –, wurde die Sache endlich beim Wort genommen: „Zemlinsky-Renaissance“.
Heute sind wir wieder am Anfang angelangt: Zemlinsky gilt als großer Komponist, dessen Musik gespielt wird und sich nicht – wie lange geargwöhnt – hinter vergleichbaren Werken seiner berühmten Zeitgenossen verstecken muss. Und seit der Berliner Verlag Ricordi auch die zu Lebzeiten des Komponisten nicht erschienenen Werke der Öffentlichkeit zugänglich macht, weiß man, dass auch das Gesamtwerk hält, was das 2. Streichquartett, die Maeterlinck-Gesänge und die Florentinische Tragödie versprochen haben.
Zemlinskys Wiederentdeckung wird gerne der Postmoderne gedankt. Nicht, dass Zemlinskys Werk wie das Mahlers als postmodern verstanden würde; aber es musste erst die Postmoderne das Ende teleologischer Kunstgeschichtsbetrachtung verkünden, um den Blick der Fachleute auf Komponisten wie Zemlinsky zu lenken, die abseits des von Beethoven über Brahms und Schönberg zu Boulez führenden Hauptstranges ihr Dasein fristeten. Inzwischen liegt die im Wirtschaftswunder der fünfziger Jahre erstarkte These, es gäbe einen Fortschritt des Komponierens, an dem sich die Falschheit oder Richtigkeit der musikalischen Ergebnisse messen lasse, auf dem Misthaufen der Musikgeschichte. Sie sollte dort nicht verhöhnt werden. Denn die Suche nach einer objektiven „Tendenz des Materials“ reagierte auf die Korrumpierung der Emotion durch den Nationalsozialismus durchaus angemessen.
Indes spiegelt Zemlinskys Rückkehr in das Repertoire nicht allein die postmoderne Lust an dem, was zum Abseitigen wurde, und sei’s durch Vergessen. Sie signalisiert vielmehr das Bedürfnis, im Vertrauten ein Neues zu spüren. Zemlinskys Musik ist in ihrem einzigartigen Erfindungsreichtum in melodischer, harmonischer und formaler Hinsicht komplex genug, um noch 100 Jahre nach ihrem Entstehen die Aura der Moderne auszustrahlen, und fußt doch hörbar auf dem klassisch-romantischen Regelkanon. Sie vereint mithin das 19. Jahrhundert, dessen Tonsprache weiten Kreisen des Publikums noch verständlich scheint, mit dem 20. Jahrhundert, um dessen Sprache sich mehr Menschen bemühen, als die Apologeten der Gegenwart glauben.
Insbesondere Zemlinskys Vorliebe für Varianten ist die Chiffre eines Komponierens, das das einmal Gesetzte gerade so weit bestätigt, um wiedererkannt zu werden, es aber gleichzeitig so weit verändert, um von seiner Neuheit irritiert zu werden. Das ständige Lavieren mit Ähnlichkeiten, Assoziationen und Déjà-vu-Effekten verweist technisch ins 19. Jahrhundert, das den Aufbau einer Komposition spätestens seit Liszt nicht mehr mit der Formenlehre, sondern mit der individuellen „Geschichte“ eines sich allmählich verändernden Themas rechtfertigte.
Ideell aber entstammt das Anbringen kleiner Veränderungen der Tradition mündlicher Überlieferung von (Volks-)Liedern; nicht zufällig erprobt Zemlinsky das Komponieren mit Varianten zunächst in seinen frühen Liedern, wo die Variantentechnik auch in konventionellen Strophenliedern textliche Feinheiten abzufangen hilft. Varianten im großen Stil finden sich dann in der Seejungfrau (1902-1903), Zemlinskys einziger Symphonischer Dichtung – man beachte einmal die windschiefe Harmonisierung und Instrumentierung des Hauptthemas in der Mitte des zweiten Satzes –, und im Traumgörge (1904-06), dessen Themen- und Variantenvielfalt von keiner anderen Oper Zemlinskys übertroffen wird. In dem Zweiten Streichquartett (1913-15) und der Lyrischen Symphonie (1922-23) schließlich beweisen die Varianten nicht nur Zemlinskys unerschöpfliche Phantasie, sondern festigen auch die Konstruktion der Werke: Was sich innerhalb der Melodie als zufällige Änderung gibt, entpuppt sich bei genauer Betrachtung oft als jenes Detail, das die Brücke zu einem anderen Thema schlägt. Dem Brahms- und Mahler-Bewunderer wird die Variantentechnik so zum wichtigsten Träger der bis ins kleinste verästelten Kompositionen.
Zemlinskys Variantentechnik veranschaulicht, wie einer im 20. Jahrhundert sein Erbe zu Eigenem verwandeln kann. Denn selbstverständlich gab und gibt es unzählige Komponisten, die aus den alten Regeln zu schöpfen suchen. Was Zemlinsky vielen von ihnen voraus hat, ist eine heute kaum noch anzutreffende rückhaltlose Hingabe der eigenen Person an nahezu jeden Takt. Zemlinskys Scheu vor dem eigenen Wort – Werkkommentare fehlen bis auf ein paar trockene Zeilen über die Lyrische Symphonie, und die Briefe an seinen Freund Schönberg sind oft erstaunlich unpersönlich – zwang ihn, sich seiner Umgebung durch die Musik mitzuteilen und durch die Texte, die er vertonte. Selbst wer den Terminus der „musikalischen Biographie“ nicht auf Zemlinskys mehr als 100 Lieder anwenden möchte, um nicht von der kompositionstechnischen Vielfalt und Ernsthaftigkeit dieser neben den acht Opern und vier Streichquartetten zentralen Gattung im Gesamtwerk Zemlinskys abzulenken, wird bemerken, dass seine Musik dort zu glühen beginnt, wo der Komponist unmittelbar aus seinem Leben zu erzählen scheint.
© Christoph Becher