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5 Fragen an Sergej Newski

5 Fragen an Sergej Newski

Der Komponist Sergej Newski erzählt über die Arbeit an seiner neuen Oper Secondhand-Zeit und über sein schönstes Aufführungserlebnis bei der Premiere seines Bühnenwerks Franziskus.


Der Berufswunsch "Komponist" steht normalerweise nicht ganz oben auf der Wunschliste eines Jugendlichen, zumal er, wie du, nicht aus einem wirklichen Musikerhaushalt stammt. Wie kam es dazu?


Ich hatte schon einen Musiker in der Familie, nämlich meinen fünf Jahre älteren Groß-Cousin Dmitry, mit dem ich zusammen aufgewachsen bin. Er hat an der berühmten Gnessin-Spezialmusikschule Cello studiert, zusammen mit Evgeny Kissin, der späteren Klavierlegende. Mit ihm hat er manchmal vierhändig Jazz-Standards gespielt. Eigentlich wollte Dmitry auch ein Jazz-Pianist und kein Cellist werden, sein eigentliches Instrument hat er eher gehasst! Bei mir aber war das ganz anders: Ich hatte bereits mit sechs einen klaren Plan, der so aussah: Ich schreibe die Noten und er spielt sie, egal worauf. Im Alter von 15 – ich war zehn – hat Dmitry angefangen, sich für Klangregie zu interessieren und die ersten Versuche im Bereich Mehrkanalaufnahmen mit Hilfe von zwei Tonbandmaschinen und einem primitiven Mischpult unternommen. Da brauchte er wiederum mich als Versuchskaninchen: Zusammen haben wir eine fiktive Travestie-Diva mit dem sprechenden Namen Bulldozerina Vinaigretova erfunden – der Vorname stand für die Durchsetzungskraft dieser imaginären Popkünstlerin. Ich habe quasi im Namen dieser Bulldozerina einige Songs komponiert und aufgenommen, der Stimmbruch war noch weit entfernt ... Mein ernsthaftes Interesse an der klassischen, gar an der Neuen Musik kam später, da war ich schon fünfzehn und studierte bereits am Musik-Kolleg des Tschaikowsky Konservatoriums. Zum Schlüsselerlebnis wurde für mich ein Gastspiel der Stuttgarter Oper mit den Soldaten von Bernd Alois Zimmermann im September 1989 – mich hatte der Theater- und Opernvirus erfasst und ich habe mir diese Aufführung mehrmals angesehen. Ich wurde zum bekennenden Fan der Neuen Musik. Auch die Moskau-Besuche von Stockhausen 1990 und Cage 1991 haben ihren Teil dazu beigetragen.

Was darf bei dir für das Gelingen einer Komposition nicht fehlen?

Zeit! Komponieren ist ein Fulltime-Job. Ohne meinen Lebensgefährten Anton und ohne die vielen Menschen, die mich bei der Arbeit unterstützen, würde ich es nicht schaffen! Manchmal helfen auch "Spezialbedingungen" oder "Rituale". Als ich noch Student war, ging ich zum Beispiel gern in die fensterlosen Proberäume der Semperoper, um dort zu komponieren. Ich brauchte diese Illusion und diese Imagination, Teil eines Großbetriebs zu sein und um mich zu konzentrieren. Der Beruf des Komponisten ist einsam und man ist stolz auf die Unabhängigkeit, die er mit sich bringt. Einerseits. Andererseits strahlte die lang-same Maschinerie eines Orchesters oder eines Opernhaus etwas sehr Beruhigendes auf mich aus. Sie verlieh mir Sicherheit, durch die Abläufe vermittelte sie eine Regelmäßigkeit, die man als Komponist eigentlich nicht kennt. Das gilt bis heute. Dieses Feeling, in einem Großbetrieb zu arbeiten und gleichzeitig Kunst zu machen, ist bei der Oper und gerade auch beim Theater einmalig, vielleicht deswegen sind sie die beiden Kunstformen, die mich am meisten interessieren.

Was war für dich bislang dein schönstes Aufführungserlebnis bei einem deiner eigenen Bühnenwerke?

Ganz klar die Oper Franziskus! Und zwar die beiden Aufführungen, die es davon gab: einmal die konzertante Uraufführung bei den Klangspuren Schwaz 2010 unter Johannes Kalitzke und die szenische Erstaufführung am Bolshoi Theater in Moskau unter Philipp Chizhevsky, die dort zwei Spielzeiten zu sehen war, von 2012 bis 2014. Der Librettist Claudius Lünstedt hat einen sehr feinen, metaphysischen und zugleich sehr absurden Text geschrieben, das differenzierte Porträt eines zweifelnden, fordernden Charakters, der für seine Zeitgenossen oft kaum zu ertragen ist. Unser Franziskus bei der Bolshoi-Inszenierung war Daniel Keating-Roberts, ein ausgezeichneter englischer Countertenor, Schüler von Andrew Watts. Im vierten Bild, das bereits nach dem Tod des Titelhelden spielt, musste Daniel eine zehn Meter hohe Kletterwand ersteigen. Das sollte die Himmelfahrt der Titelfigur symbolisieren. In diese Kletterwand waren hier und da kleine Löcher geschnitten, die dem Sänger als Stufen dienten. Irgendwann bei einer der letz-ten Bühnenproben musste Daniel die Wand immer wieder hochsteigen. An einer völlig unpassenden Stelle der Partitur wurde die Probe ganz plötzlich durch einen extremen Schrei gestört: »Hot Holes«. Sicher sind »heiße Löcher« ein Ausspruch, den man von einem Heiligen wie Franziskus sicher am wenigsten erwartete. Wir waren ratlos? Der Grund war, wie der Ausruf selbst, höchst profan: Durch die Bühnenbeleuchtung mit den extrem heißen Scheinwerfern hatte sich die Kletterwand so erhitzt, dass der arme Franziskus gar nicht mehr wusste, wo er sich festhalten sollte. Er muss aber einen heiligen Schutzengel gehabt haben, denn Gott sei Dank gab es keinen „Heiligensturz“.

Franziskus (2008-2012)

Kammeroper in 4 Szenen nach dem Stück “Heiliger Franz“ von Claudius Lünstedt
für Soli, gemischten Chor und großes Ensemble
Claudius Lünstedt (dt.); russ. Fassung: Sergej Newski
3 Sprecher - Chor SATB (4.4.4.4) - 2(2 Picc).1(Eh).2.Asax.Tsax.0 - 1.1.2.0 - 4Perc.Akk.Klv - 1.1.1.1.1
Uraufführung: Moskau, 12.9.2012
Dauer: 60’

Partitur von Franziskus




Was war für dich deine bisher größte Herausforderung als Komponist eines Musiktheaterwerks?

Seitenweise Prosa zu vertonen. Als Opernstoff habe ich schon oft Prosa und dokumentarische Texte gewählt, denn "non fiction" und Monologe sind die Aussageformen, die mich persönlich am meisten ansprechen. Zugleich bereue ich diese Faszination jedes Mal auch gleich wieder, spätestens dann, wenn ich mehrere Seiten eines dichten Prosatextes vor mir liegen habe: Die Unregelmäßigkeit eines Prosatextes und den musikalischen Rhythmus in Einklang zu bringen, ist für mich immer die größte Herausforderung. Und – das habe ich erst langsam begriffen – ein Wort, auch ein gesprochenes Wort, funktioniert in einem Opernkontext völlig anders als auf der Sprechbühne. Die Details, die komplexen Konstruktionen gehen im musikalischen Zusammenhang oft verloren. Dagegen bekommt die lakonisch ausgedrückte oder sogar klischeehaft formulierte Emotionalität in der Oper plötzlich einen Hauch von Authentizität. Das hat mich besonders bei der Arbeit an dem Text von Svetlana Alexievich für Secondhand-Zeit beschäftigt. Denn dieser Text lebt gerade von den paradoxen Details. Es tat sehr weh, gerade die schönsten Details des Textes streichen zu müssen, wohl wissend, dass sie auf der Bühne leider in dem Gesamtfluss untergehen würden. 

Auf was bist du bei deinem neuesten Opernprojekt an der Staatsoper Stuttgart besonders stolz?


Dass mein Stück überhaupt zusammen mit Mussorgsky funktioniert hat. Wir – ich meine jetzt den Regisseur Paul-Georg Dittrich und den Produktionsdramaturgen Miron Hakenbeck – wollten ja keine Übermalung oder Aktualisierung eines bereits existierenden Werks schaffen, sondern ein komplexes, polyphones, energetisches Zusammenwirken zweier völlig verschiedener Partituren, die auch jede einzeln für sich gespielt werden könnte. Die acht Szenen von Secondhand-Zeit mischen sich mit den sieben Tableaus von Boris Godunow, ohne die Einzigartigkeit der Dramaturgie von Mussorgsky anzutasten oder zu verletzen. Ich wollte eine Art "Über-Dramaturgie" schaffen, die beide Werke – Mussorgskys und meines – in einen oft paradoxen, aber nachvollziehbaren Erzählfluss zu etwas Neuem verbindet. Besonders berührend fand ich den Enthusiasmus der Sänger*innen, die statt einer zwei Rollen einstudieren mussten. Diese Fähigkeit, zwei Rollen zu einer verschmelzen zu lassen, war der unglaubliche Elan der Darsteller*innen sowie der Detailarbeit des Regisseurs zu verdanken. Mein ganz großer Dank gebührt auch dem Dirigenten Titus Engel, durch den das Projekt erst seinen richtigen musikalischen Zusammenhalt gewonnen hat. Titus ist ein Musiker, zu dem ich als Komponist ein fast grenzenloses Vertrauen habe, wir kennen uns zwanzig Jahre. Er hat immer Ruhe ausgestrahlt, zugleich war er aber sehr hart und überzeugt von dem Wert des ganzen Projekts. Ohne seine Besonnenheit und seinen Glauben an den Sinn der Sache, hätten wir das Projekt nicht realisieren können. Davon bin ich überzeugt.

Watch the trailer of BORIS (2018-2019)




Secondhand-Zeit (2018-2019)

Libretto von Sergej Newski
nach Texten aus dem gleichnamigen Buch von Swetlana Alexijewitsch
2S.2Ms.T.Bar.Kind - Chr - 3.2.2.2 - 4.2.2.1 - 4Perc - Klv - 10.10.8.8.6
UA: 02.02.2020, Stuttgart
Dauer: ca. 60'

Lesen Sie unseren Artikel über BORIS hier.

Partitur von Secondhand-Zeit







Das Gespräch führte Daniela Brendel, Foto von Harald Hoffmann