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Interview: Lang über Der Hetzer

Interview: Lang über Der Hetzer

Die Pandemie hatte eine mehrmalige Verschiebung der ursprünglich für März 2021 geplanten Uraufführung von Bernhard Langs Oper Der Hetzer zur Folge. In der Mai-/Juni-Ausgabe der Zeitschrift ORPHEUS erschien ein Interview zu der zunächst auf Ende Mai 2021 verschobenen Uraufführung, in der Bernhard Lang Auskunft gibt über sein Kompositionsprinzip und dessen Stilelemente, über den Einsatz von Rap und die gesellschaftspolitischen Intentionen seiner Auftragsoper Der Hetzer, eine Überschreibung von Shakespeares wie Verdis Otello. Die Uraufführung fand schließlich am 26. September 2021 in Dortmund statt.


An der Oper Dortmund ist Ihre Uraufführung »Der Hetzer« als eine »Überschreibung« von Verdis »Otello« angekündigt. Sehen können wir sie wegen der aktuellen Lage leider noch nicht – darüber sprechen sollten wir aber unbedingt, denn sie wirft einige Fragen auf! Aber schaffen wir erst einmal eine Basis: Was heißt »Überschreibung« für Sie?


Die »Überschreibung« ist eine Technik, mit der ich mich schon seit 2007 mit dem Beginn meiner »Monadologien « beschäftige. Ich habe sie einerseits aus der bildenden Kunst, zum Beispiel dem Werk von Jonathan Meese, entlehnt. Andererseits sind die Metafilme aus der experimentalen Filmkunst eine wichtige Referenz. Diese Werke sind Filme über Filme, das heißt es werden vorhandene Filme quasi neu- oder nachkomponiert. Zusätzlich inspiriert mich noch die Idee des Remixens aus der DJ-Szene, bei der man auf Vorhandenes zurückgreift und dabei nicht den Erfinder spielt, der jede Minute eines Werkes neugestaltet. Man ist dann jemand, der über Werke nachdenkt.

Diese Metamusik klingt auch nach Liszts Opernparaphrasen, bei denen er Bühnen- oder Orchesterstücke auf das Klavier transferiert hat. Bewegen Sie sich da auch in der klassischen Tradition des musikalischen Zitierens und Transkribierens?

Das ist eine Praxis, die früher gang und gäbe war: sich gegenseitig die Bälle zuzuschießen, aber auch das eigene Werk neu zu überarbeiten und neu zu gestalten. Die »Überschreibung« geht aber noch einen Schritt weiter. Sie hat dekonstruktivistische Ansätze, die dem Primärtext tiefere Schichten entlocken und neue Bedeutungsebenen aus ihm herausschälen soll. Das ist, als wäre das Stück bei der Psychoanalyse. In meinem »Otello« bleibt die Originalstruktur, also die vier Akte und die Personenkonstellation, größtenteils erhalten. Innerhalb dieser Begrenzungen, dem exakten Grundriss des Originals, erfolgt die Neudeutung und Umschreibung.

Die »Überschreibungen« sind ein häufiger Gast in Ihrem OEuvre, Sie haben damit beispielsweise bereits Bruckners 1. Sinfonie oder im großen Stile Wagners »Parsifal« bearbeitet. Wie fiel nun die Wahl auf Verdis »Otello«?

Beim Musiktheater ist gerade das Spiel mit dem Original sehr interessant, das die »Überschreibungen« mit sich bringen. Es gibt viele Hörerinnen und Hörer, die den »Otello« kennen – er gehört ja trotz seines merkwürdigen Inhalts nach wie vor zu den meistgespielten Stücken. Das eröffnet die Möglichkeit des Vergleichens, des Erinnerns und des Wiedererkennens. Geboren wurde das Projekt »Der Hetzer« in Dortmund. Mit Opernintendant Heribert Germeshausen führe ich bereits seit vielen Jahren einen Diskurs über politisches Musiktheater. In Brainstormings mit ihm, der Dortmunder Chefdramaturgin Merle Fahrholz und Ricordis Promotion Managerin Daniela Brendel wurde uns schon lange vor dem Kompositionsauftrag klar, wie exzellent geeignet eine Überschreibung des »Otello« für das politische Musiktheater von heute ist. Einerseits ist das Stück wahnsinnig aktuell mit seinem Hauptcharakter, der aus Afrika kommt, jetzt im westlichen Kontext Karriere macht und mit Mobbing, Diffamierung, psychologischer Kriegsführung und Fake News konfrontiert ist, denn davon hören wir eigentlich täglich. Es ist eine Aktualität, bei der man schon aufpassen muss, dass es nicht plakativ wird. Und andererseits ist der »Otello« wegen seiner Rollendefinition heute eigentlich unmöglich aufzuführen, daher wurde die Notwendigkeit einer »Überschreibung« deutlich.

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World premiere of Der Hetzer, Dortmund 2021


Wie ist denn das Verhältnis vom »Hetzer«, also ihrer »Überschreibung«, zum Original? Wie viel ist noch übrig von Verdis Oper, was ist unbedingt umzudeuten und wie ist das bei Ihnen passiert?

Mein »Coltello« ist ein Schiffsflüchtling. Die Eröffnungsszene vom Original wird hier zu einem Schiffbruch in Italien umgedeutet, bei dem Geflüchtete ankommen. Coltello gerät nach Dortmund und wird dort Polizist. Damit ist er schon durch die Rolle zwischen Gut und Böse angesiedelt. Wesentlich ist, dass Coltello erkennen wird, dass er durch Jack Natas, einem umgekehrten »Satan« aus der Rechts-Fraktion, manipuliert und gemobbt wird: »Ich lasse mich nicht zu dem Monster machen, als das ihr mich sehen wollt«, ist die Message der Schlüsselszene meiner Oper. Im Original begreift er an dieser Stelle die Fake News nicht, obwohl sie vor ihm liegen, und wird zum Killer. In dieser Hinsicht folgen Verdis, Boitos und auch Shakespeares Otello dem Rousseau’schen Bild des »Schwarzen«. Darin sei dieser »der Wilde«, der nicht Herr seiner Gefühle ist und sich nicht beherrschen kann. Er muss zum Verbrecher werden, »weil er halt so ist«. Und das dürfte man eigentlich auf einer Bühne so nicht spielen, weil es extrem diskriminierend ist, auch wenn das Stück in einer anderen Zeit verortet ist. An der Szene, in der Coltello eigentlich Desdemona (hier Desirée) umbringt, bin ich fast verzweifelt. Wochenlang habe ich daran herumgedreht und immer wieder gedacht, dass diese Szene einfach nicht so stehen bleiben darf und man sie heute nicht mehr derartig auf eine Bühne bringen kann. Da hätte ich mir mit meiner Message nur selbst ins Knie geschossen, wenn ich mit einem aktuellen, politischen, kritischen Musiktheater wieder diskriminierend wirke.

Und im Musikalischen?

Natürlich wurde durch die Umdeutung der Geschichte auch viel am Originaltext verändert, aber die Musik von Verdis »Otello« kann man schon wiedererkennen. Da arbeite ich nach wie vor viel mit meiner Loop-Technik. Für die gibt es zwei Anwendungsbereiche. Einer zeigt sich zum Beispiel in der Ouvertüre vom »Hetzer«, in der im Wesentlichen die Verdi’sche Diktion erhalten bleibt, sie aber gerade in den großen dramatischen Passagen mit Loops versehen wurde. Wenn man die Ouvertüre hört, glaubt man einige Minuten, im Original zu sitzen, bis dann die kleinen unmerklichen Veränderungen und Loops immer deutlicher werden. Die andere Situation, in der ich Loops verwende, ist zur Unterstreichung bestimmter Worte und Texte. Im Zentrum der Szene, in der sich Coltello von seiner Gewalthandlung gegen Desirée abkehrt, steht textlich sein »Nein«. Dieses »Nein« wird zu einem riesigen Loop – »Nein, nein …« – der immer weiter geht – »Nein, nein …« – und der Chor setzt ein – »Nein, nein …« – und plötzlich verneint Coltello sich selbst. Hier dreht sich die Bedeutung der Aussage und Coltello erkennt, was ihm passiert ist: »Nein, nein … Das geht nicht, die haben mich jetzt genau da hingebracht, wo sie mich haben wollen.« Diese Textloops erzeugen also einerseits einen Rhythmus und eine gewisse Eindringlichkeit, können aber auch am Sinn herumdrehen.


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World premiere of Der Hetzer, Dortmund 2021



Dazu kommt dann im »Hetzer« noch der interdisziplinäre Kunstgriff: Rapperinnen und Rapper unterbrechen mit Statements von Jugendlichen aus der Peripherie Dortmunds die Oper.

Diese Interventionen sind besonders wichtig, um das Werk und seine Message aus der Blase des Theaters, aus unserem hermetischen Biotop zu lösen. Die Themen des Stücks, also Neid, Eifersucht, Hass und Liebe betreffen uns alle und die Texte der jungen Menschen aus Dortmund sind so unglaublich direkt, dass uns die Idee kam, sie von Rapperinnen und Rappern interpretieren zu lassen und so quasi die Tür nach draußen aufzumachen. Da hoffen wir, dass von außerhalb auch Leute in die Vorstellung kommen und das System auf diese Art und Weise durchlässiger wird – das ist schon eine Kalkulation, die dahintersteht. In der Partitur ist jetzt festgeschrieben, dass diese Statements nicht von mir kommen, sondern in jeder Stadt neu erstellt und von dortigen Rapperinnen und Rappern interpretiert werden sollen.

Nun lassen Sie uns die »Überschreibung« eines alten Werks noch kulturpolitisch einbetten. Die zeitgenössische Oper hat es nun nicht ganz so einfach, auf die große Bühne zu kommen. Ist es unkomplizierter, eine neue Oper zur institutionellen Bühne zu bringen, wenn sie Verbindung zum Repertoirekanon hat, wie es beim »Hetzer« der Fall ist?

Ich glaube nicht. Ob das funktioniert, hängt eher von der intrinsischen Qualität des Stücks ab. Aber es gibt schon die Position der Kulturpolitik, der Neuen Oper die Klientel abzusprechen. Die Gewichtung zwischen neu Geschaffenem und dem Repetieren von bereits Vorhandenem stimmt nicht. Wenn wir daran denken, dass in Deutschland während der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts innerhalb eines Jahres über 1.000 neue Opern geschaffen wurden und die Leute wirklich neugierig auf diese neuen Werke waren, dann ist die Situation, in der wir uns jetzt befinden, ein Desaster. Die alten Werke waren nie dafür gedacht, so zu Tode gespielt zu werden. Der einzige Ausweg ist dann, die fehlende Differenz in der Musik über eine Differenz in der Regie auszugleichen, aber das geht nur bis zu einem bestimmten Grad. Die Musik bleibt die Musik. Da ist vielleicht die Technik der »Überschreibungen« ein möglicher Weg.

Aber haben wir denn keine Themen für wirklich neue Opern? Warum muss es der Rückgriff sein?

Weil ich Spaß habe mit diesem Spiel. Es ist für mich eine künstlerische Idee zu sagen: »Es ist alles schon da gewesen, drum wiederhol ich’s.« Meine ganze Existenz und mein Bewusstsein ist nichts anderes als die Spiegelung von Vergangenem. Ich bin das, was war. Und aus diesem Widerspruch heraus Neues zu schaffen, ist für mich ein Initiativ und motorisiert mich. Natürlich ist die Kritik, dass ich mich immer nur am Archiv abarbeiten würde, für mich eine große Herausforderung. Aber wenn man das einen DJ fragen würde, würde er groß die Augen verdrehen und die Frage nicht verstehen. In mancher Hinsicht ist das Wiederholen eine Verdopplung – aber gleichzeitig auch ein möglicher Ausweg auf dem Weg zum Neuen.

Das Interview wurde von Maike Graf geführt und zuerst veröffentlicht in ORPHEUS 03/2021. Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung der Autorin und ORPHEUS.

Photos: Thomas Jauk, Stage Picture