Portrait
Am Ende des 20. Jahrhunderts, in unserer hyperspezialisierten Zeit, wird man schon fast misstrauisch, wenn ein Künstler gleich in mehreren Sparten seines Berufes Hervorragendes leistet. Man glaubt, dass ein Komponist höchstens ein amateurhafter Dirigent und umgekehrt, dass ein Dirigent keinesfalls ein guter Komponist sein kann. Dabei wird allerdings gern vergessen, dass früher einmal viele Komponisten herausragende Interpreten waren. Die Kluft zwischen Komposition und Interpretation ist eine Erscheinung unseres modernen Zeitalters - und wenn jemand sich in beiden Sparten auszeichnet, so ist das vor allem ein Zeichen dafür, dass er sich etwas von der Universalität früherer Zeiten erhalten hat.
Eötvös, der mit vierzehn Jahren von Zoltán Kodály als eine Art Wunderkind in die Budapester Musikhochschule aufgenommen wurde, war Komponist, ehe er Dirigent wurde. Allerdings entwickelte sich seine Karriere als Komponist langsamer als die des Dirigenten. Dem aufmerksamen Zuhörer fiel allerdings schon in den frühen Werken auf, dass Eötvös nicht einer jener Komponisten ist, die nur zum Zeitvertreib, sozusagen zum eigenen Vergnügen komponieren. In den neunziger Jahren hat sich dann das Bild, das sich die Öffentlichkeit von Peter Eötvös machte, grundlegend geändert. Im Lauf dieser Jahre schrieb Eötvös den Hauptteil seines bis jetzt vorliegenden Œuvres von etwa dreißig Werken, deren Geist und Komplexität es durchaus rechtfertigen, dass ihr Autor einen Platz unter den führenden Komponisten am Ende des Jahrhunderts für sich in Anspruch nimmt.
Eötvös’ Weg als Komponist ist alles andere als konventionell zu sein - vielleicht ist es gerade deswegen so schwierig seinen Platz auf der Bühne zeitgenössischer Komposition zu finden. Es gibt in seinen Stücken keine wiederkehrenden Techniken oder Stilmittel, er verwendet keine immer wiederkehrenden Elemente. Eötvös’ Werke scheinen einzigartiger und charakteristischer als viele Stücke seiner Kollegen. In jedem seiner Werke kann man die Gegenwart eines unabhängigen Konzeptes spüren, den langsam aufgehenden Samen des Gedankens, die “große Idee”.
Fast alle, die Eötvös’ Musik schätzen, sehen seine dramatische Begabung, seinen Sinn für das Theater. Jede seiner Arbeiten ist szenisch, wobei es kein Zufall ist, dass sein größter Erfolg seine erste Oper Drei Schwestern ist. Szenische Elemente erscheinen in verschiedenen Verkleidungen: er hat Hörspiele geschrieben (Jetzt, Miss!), Varieté (Harakiri), “Madrigal- Komödien”, Performances, aber selbst in seinen Orchesterwerken entdeckt man seinen Sinn fürs Dramatische. Für Eötvös selbst ist alle seine Musik dramatisch, ja filmisch. Dieses musikalische Theater enthält gewisse archaische Elemente, aber selbst wenn wir es mit dem japanischen Nô oder Kabuki vergleichen oder mit alten afrikanischen Riten, eines ist sicher: es bietet dem Hörer nicht die beruhigende Möglichkeit, unbeteiligt zu bleiben. Das Spiel ist echt: das Geräusch eines Gewehrschusses oder das Säbelrasseln auf der imaginären Bühne bedroht auch das Leben des Zuschauers. All das können wir bei der Aufführung von Psalm 151 erleben, wenn wir den rituellen Tanz des Schamanen verfolgen, der mit seiner großen Trommel kämpft, und wir fühlen die Buchstaben von Frank Zappas Namen auf unserer eigenen Haut, wenn der Schlagzeuger sie mit den Fingernägeln auf die Bespannung seines Instrumentes kratzt.
Ich kenne keinen anderen zeitgenössischen Komponisten, in dessen Arbeiten die musikalischen Gesten so klar und stark zum Ausdruck kommen. Vielleicht ist es diese Gestensprache, die den nachhaltigen Eindruck erklärt, dem der Kritiker so selten bei zeitgenössischer Musik begegnet, dass er ihn für ein seltenes Phänomen hält. Den sinnlichen Aspekt seiner Kompositionen erhöht Eötvös noch durch ein Spiel mit dem Klangraum und ein subtiles Gefühl für Töne; nur wenige sind so vertraut mit der “inneren” Natur der gewählten Ausdrucksmittel wie er.
Neben all den starken Effekten und den vielen Arten von Humor gibt es auch eine Reihe von lyrischen Momenten. Zum Beispiel wenn der Komponist jeden Satz von Atlantis mit den fragmentierten Erinnerungen an transsylvanische Volksmusik beendet, oder wenn er verlorene Schönheit mit den zögernden Worten des Klarinetten-Flöten-Duetts am Ende von Shadows beklagt und so in der Klage selbst Schönheit erschafft.
Bei Eötvös’ Kompositionen erstarrt Könnerschaft nicht zu Spekulation, Instrumentierung ist kein Mittel zum Zweck, sondern vielmehr ein Mittel im Dienste des Ausdrucks, Tradition legt hier keine Fesseln an, sie lebt weiter in Form von tief berührenden Bruchstücken der Erinnerung.
—Zoltán Farkas, 1999