Diskrete Musik
Von Ernstalbrecht Stieblers Entdeckung der Langsamkeit
"Das Ziel meiner Musik ist eine Pause, ein Innehalten." (Ernstalbrecht Stiebler)
Die Frage „Wie geht’s?” ist gar nicht leicht zu beantworten. Die Antworten „gut” oder eben „schlecht” sind eher Verlegenheitslösungen als adäquate Beschreibungen in der Regel komplexer Gemütszustände. Mit Fragen an die Musik verhält es sich kaum anders. An die „Befindlichkeit” von Klängen, von Klang- oder auch nur Tonverläufen ist ähnlich schwer heranzukommen wie ans eigene Wohl- oder eben Unwohlsein. Begriffe versagen. Was verraten schon thematische Gebilde, Intervalle oder Akkorde über den Gesamtcharakter eines Werks? Oder was sagt uns ein Grundmetrum, ein bestimmtes Tempo alleine? Sind das nicht eher Nebensächlichkeiten, die höchstens eine gewisse Richtung vorgeben?
Grundsätzliche Fragen solcher oder ähnlicher Natur haben viel mit der MusikErnstalbrecht Stieblers zu tun. Eindeutige Antworten sind Stiebler dabei fremd. Skepsis durchzieht stets seine Werke. Ruhig schreitet das Geschehen in seinen Klangarchitekturen voran, durchaus aber in selbstbewusster Sicherheit, trotz häufiger mikrotonaler Verschleierungen in Form von Achtel-, Sechstel- oder Viertelton-Alterationen. Fast ausschließlich rein instrumentale Werke sind in den letzten fünfzig Jahren entstanden; die emotionale „Körperlichkeit” des „so genannten Kunstgesangs” großer Teile der Musik unserer Zeit geht Stiebler häufig „zu weit. Diskretion, und Distanz – das sind wohl die geeigneten begrifflichen Annäherungen, wenn man den Ausdruck der Kompositionen des 1934 in Berlin Geborenen Stiebler zu beschreiben versucht. Und zu dieser Diskretion gehört Konzentration und radikale Reduktion. In
minimale harmonie für Ensemble (2008) kreist das Geschehen fast ausschließlich um den Ton es. Gewiss wird er eingefärbt: Ein, zwei oder drei Sechsteltöne geht es in den einzelnen Stimmen mal auf, mal abwärts. Dazu gibt es vorsichtige Ein- und Ausblenden, die jedoch – laut Partitur – „nie mehr als gerade noch wahrnehmbares Crescendo oder Decresendo” zu hören sein sollen.
„Zu leichte Revolution”
„Gerade noch wahrnehmbar” – die feinen Unterschiede sind es, auf die Stiebler immer wieder aufmerksam macht, und das mit erstaunlicher Beharrlichkeit. Schon in seinem Streichtrio
Extension I von 1963 steht zwar nicht ein einzelner Ton wie in
minimaler harmonie im Mittelpunkt. Dafür aber konzentriert sich Stiebler auf das klangfarbliche Potential zweier Töne, eines h und eines f. Seine Vorlieben für feinste Details kamen schon in den frühen 60er Jahren nicht von ungefähr. An der postseriellen Musik kritisierte Stiebler eine zu „leichte Revolution” in Form bloßer Erweiterung Schönbergscher Zwölftton-Errungenschaften. Stieblers Blick ging nicht zurück, dafür aber gen Osten, Westen und Süden. Mit dem fernöstlichen Zen-Buddhismus hat er sich intensiv beschäftigt; daher rühren Gedanken zur Aufhebung der klassisch-europäischen Subjekt-Objekt Beziehung. Musikalische Bezugspunkte waren und sind im Westen Morton Feldman und im Süden Giacinto Scelsi, diese ausgewiesenen Bauherren ebenso sensibler wie gewagter Klangarchitekturen. Im Gegensatz aber zu den beiden Entdeckern der Langsamkeit baut Stiebler nach Plan. Zahlen und Zeilen spielen hier Hauptrollen.
"Es gibt eine gewisse Abneigung gegen zu eindeutige Symmetrien. Daher eine Neigung zu Primzahlen. Bei mir gibt es meistens eine Gliederung in Zeilen. Die große Frage ist dann immer: Wie lang ist die einzelne Zeile, also das Grundelement? Sind die Zeilen alle gleicher Länge, oder sind sie wachsend? Man muss die Wirkung dieser Zeilen richtig einschätzen können, weil das auch einen gewissen Atem gibt. Ich fand es immer schrecklich, ins Blaue hinein zu komponieren: immer weiter, immer weiter. Ich wollte immer, dass das in einem Rahmen ist, dass ich auch in meiner Vorstellung einen Rahmen habe. Der muss nicht fest sein."
Musik als „Zumutung”
Atem, und ein (nicht notwendig fest gefügter) Rahmen: Stieblers Wortwahl aus dem Jahr 2002 verweist auf besondere Eigenschaften seiner Musik. Durch und durch organisch ist sie, eher naturwüchsig als errungen, weit eher kontinuierlich als blockhaft angelegt. Schon Morton Feldman und Giacinto Scelsi hatten die „physikalische Zeit” (Henri Bergson) in ihren fragilen Gebilden ausgehebelt. Und auch Stiebler lässt sich Zeit. „Ein Stück von einer Dreiviertelstunde sollte nicht wie eine Viertelstunde wirken, das wäre Zeitvernichtung”, hat er auch gesagt, und hinzugefügt, dass eine Viertelstunde ruhig wirken könne wie eine Dreiviertelstunde. In Zeiten, in denen Zeit möglichst effizient genutzt werden sollte, klingen solche Worte ebenso wohltuend wie es die herrlich langsamen Klangflächen in
ton in ton tun, dem 2010 entstandenen Ensemblestück, das das Ensemble Modern 2011 in der Nationalgalerie in Berlin uraufführte. Zu Recht hat Ernstalbrecht Stiebler einmal von der „Zumutung” gesprochen, als die seine introspektive Ästhetik im Zeitalter der Event-Kultur empfunden werden muss. Sich konzentriert in sein lauschendes Ich zu vertiefen – das ist eine Eigenschaft, die heute zwischen E-Mail-Anfragen, Handygeklingel oder omnipräsentem Termindruck allzu leicht in Vergessenheit gerät. Das ist schade auch deshalb, weil man auf die Frage nach dem „Wie geht’s?” klüger antworten könnte, wenn man sich selbst besser kennen würde.
—Torsten Möller