*9.5.1941 Genève (Genf) / Schweiz
Gérard Zinsstag besuchte das Collège Calvin in Genf und studierte dann Flöte am Genfer Konservatorium. In Paris setzte er seine Studien am Conservatoire National Supérieur und in Siena an der Accademia Chigiana fort. Von 1967 bis 1975 war er als Flötist im Zürcher Tonhalle-Orchester engagiert. Gleichzeitig studierte er Komposition bei Hans Ulrich Lehmann und Helmut Lachenmann. Seit 1975 widmet er sich ausschließlich dem Komponieren.
In den Jahren 1976 und 1978 nahm er an den Darmstädter Ferienkursen teil, 1981/82 hielt er sich als DAAD-Stipendiat in Berlin auf, wo die für ihn wichtige Begegnung mit Gérard Grisey erfolgte, eine Begegnung, die sich allmählich in eine tiefe Freundschaft verwandelte. Es folgten Auslandsaufenthalte in den USA, Frankreich (1982 am IRCAM in Paris) und Russland. 1990 war er Ehrengast beim "Leningrader Frühling" und 1994 wurde er von Edison Denisov an das Tschaikowsky Konservatorium in Moskau eingeladen, um den Studenten seine Werke vorzustellen. Im Jahre 2000 wurde er von Wladimir Tarnopolsky mehrmals nach Moskau eingeladen.
1986 gründete er zusammen mit Thomas Kessler die "Tage für Neue Musik Zürich", um der zeitgenössischen Musik auch in der Schweiz zum Durchbruch zu verhelfen. Er leitete das Festival, das seitdem jährlich im November stattfindet, bis 1994.
Von 1978 bis 2001 unterrichtete er an der Musikhochschule Zürich.
Gérard Zinsstag schrieb eine Oper (Ubu Cocu), Werke für Orchester mit oder ohne Solisten, Werke für Ensembles unterschiedlichster Besetzung (mit oder ohne Elektronik), drei Streichquartette und Solostücke. Seine Werke werden von renommierten Orchestern und Ensembles aufgeführt (u.a. Ensemble Intercontemporain, L’itinéraire, Collegium Novum, Tonhalle-Orchester Zürich, Ensemble ASM Moskau, Orchestre de la Suisse Romande, RSO Berlin, SWF Baden-Baden, SWR Stuttgart usw).
1991 wurde er mit dem Werkjahr der Stadt Zürich ausgezeichnet.
Gérard Zinsstag lebt in Zürich und Villeneuve-lès-Avignon.
Fortwährende Revolte gegen den Immobilismus
Ein Porträt des Schweizer Komponisten Gérard Zinsstag
Wo der Lebensweg dieses höchst eigenwilligen Komponisten namens Gérard Zinsstag beginnt, läßt sich einfach beantworten: nämlich in Genf, am 9. Mai des Jahres 1941. Auch die kommenden Jahre lassen sich relativ geradlinig nachvollziehen. Der Vater bringt dem Jungen die Musik näher. Bereits parallel zur Schullaufbahn beginnt dieser mit dem Flötenstudium am Genfer Konservatorium. Und nach einigen Jahren in Paris und Italien wird Gérard Zinsstag 1969 Flötist im Zürcher Tonhalleorchester.
So weit, so gut: Eine feste Stelle in einem berühmten Orchester, in einer schönen Stadt mit vielen Gasthäusern, in denen Zinsstag noch heute gerne verweilt – das klingt mehr als passabel. Dem umtriebigen Einzelgänger jedoch fehlte etwas. Radikal quittierte Zinsstag im Jahr 1975 den Orchesterdienst. Als einen „Bruch mit Allen und Allem“ bezeichnet er im Rückblick diese Entscheidung. Die kompositorische Laufbahn – eigener Einschätzung gemäß zunächst noch als „unfreischaffender Komponist“ – beginnt im Unterricht beim Schweizer Kollegen Hans Ulrich Lehmann. Zehn Jahre später folgt ein weiteres Abenteuer: Mit seinem Freund Thomas Kessler gründet Zinsstag 1986 im bis dato wenig von Neuer Musik verwöhnten Zürich die „Tage für Neue Musik“ als – wie er sagt – „stille Revolte gegen helvetischen Immobilismus“.
Begegnungen mit Gérard Grisey und Helmut Lachenmann
Er selbst durfte das sagen. Er, der Weitgereiste, der geradezu gierig war und ist nach neuen Einflüssen; der sich für die „orientalische Phantasie“ Tahir für Viola, Streichorchester und kleines Schlagwerk (1996) intensiv mit den Modi der türkischen Kunstmusik beschäftigte und in Anaphores für Klavier und Orchester (1989) tschetschenischen Klängen, den Gesängen der Tschaban, nachgespürt hatte. Solcherlei Interesse an wenig wohltemperierten Modi kam nicht von ungefähr. Nach seinem Unterricht bei Lehmann hatte Zinsstag bereits den feinen Klangsinn fernab akkurater Tonhöhenkonstruktionen erworben: einerseits bei Helmut Lachenmann, andererseits bei den französischen Spektralisten, unter ihnen seinem späteren engen Freund Gérard Grisey.
Lachenmanns Einfluss sollte sich in Zinsstags Musik lange widerspiegeln. In Foris für zwei Orchester, uraufgeführt 1979 im Rahmen der Donaueschinger Musiktage, steht die „Verweigerung bewährter Klangmuster und Angebot neuer Klanggeräusche“ (Zinsstag) im Mittelpunkt. Stärker als Lachenmanns eminent politisch-gesellschaftskritische Aufladung der von ihm begründeten „Musique concrète instrumentale“ betont Zinsstag eher die durch das Geräusch geknüpfte Beziehung zwischen Kunst und Alltag.
Gérard Grisey ist das meist gespielte Werk Zinsstags gewidmet: das zwischen 1991 und 1992 entstandene Tempor für Flöte, Klarinette, Klavier und Streichtrio. Unterschiedliche Typen musikalischer Zeitgestaltung stehen hier im Zentrum, dazu auch Kompositionsprinzipien spektraler Musik. Der erste Teil von Tempor ist überschrieben mit „die befangene Zeit“. Simultanaktionen beherrschen das Geschehen. Immer wieder voneinander abgesetzt durch Generalpausen, in denen das voran gegangene imaginär nachhallt. Im zweiten Teil („die aufgehobene Zeit“) sind schnelle, rhythmisch ostinate Bewegungen prägend; kompakt bleibt der Satz auch hier. Mikrotonale Tonverschiebungen sorgen für Wirkungen, die den sensibel gestalteten Klangvaleurs der französischen Musique spectrale verwandt sind. Im dritten und letzten Teil („die manipulierte Zeit“) greift Zinsstag unter anderem auf seine „beredten“ Pausen des ersten Teils zurück.
Viele Werke hat Zinsstag geschaffen, seit er 1975 den Orchesterdienst eintauschte gegen das ungleich riskantere Komponistendasein. Viele Werke der Kammermusik, Vokal- und großformatige Orchesterwerke stehen in seinem Werkverzeichnis, darunter das sehr erfolgreich in Stuttgart uraufgeführte Empreintes (2004) für Mezzosopran und Orchester, eine tiefgründige Hommage an den verstorbenen Freund Grisey, dessen Worte auch den Gesangstext bilden. Im Jahr 2001 entstand seine grotesk-sarkastische Opera Buffa Ubu Cocu nach einem Text des französischen Schriftstellers Alfred Jarry (1873 – 1907), uraufgeführt am Theater St. Gallen. Die hier ans Collagenhafte grenzende Polystilistik wurde schon in den 90er Jahren vorbereitet, deutlich erkennbar etwa im Zweiten und Dritten Streichquartett. Während im Ersten Streichquartett (1982/83) Lachenmanns Einfluss noch deutlich wahrnehmbar ist, wirkt das Zweite Streichquartett (1994/95) deutlich eigenständiger und freier im Ausdruck. Anlässlich dessen 50. Todestags ist Béla Bartók der zentrale Bezugspunkt. Mit einem atemberaubenden Furioso bezieht sich Zinsstag am Ende auf Bartóks kühne, oft auch rabiate Expressivität. Im Dritten Streichquartett (2002/2003) erscheint im dritten und letzten Satz nach komplex-hektischen Figurationen der Streicher wie aus dem Nichts ein Zitat aus dem Madrigal moro lasso al mio duolo des italienischen Meisters Don Carlo Gesualdo. „Nach diesem Zitat, das über Tod und Liebe erzählt, kann nichts mehr wie vorher sein“ schreibt Zinsstag. Ein dunkler Schleier liegt fortan über den Klängen. In zartestem Pianissimo und mit fragilsten Töne und Generalpausen klingt das Quartett aus.
Respektvoller Ernst sowie die klare Verankerung in der Musiktradition zeigt sich in allen drei Streichquartetten, die eine außergewöhnliche Kunsthöhe verbindet. Neben solch ausdrucksstarken und komplexen Kompositionen entstehen ab den 90er Jahren immer wieder auch „lustvolle“, kleinere, geradezu charmante Gelegenheitswerke, in denen Zinsstag „andere Wege geht“, sich durchaus auch „gehen lässt“. Geradezu im Sinne eines souverän entspannten Spätstils entstehen 2008 die Cinq petites études sur les résonances für Klavier. Wohl gesetzte Dreiklänge, Quinten und Terzen erscheinen hier des Öfteren. Leisen Resonanzphänomenen wiederum spürt Zinsstag durch stumm gedrückte Tasten nach. Die fünfte und letzte Etüde, Le jeu des tierces („Spiel der Terzen“) ist „akrobatisch“ (Zinsstag) angelegt, anzusiedeln irgendwo zwischen den Klavieretüden György Ligetis und spätromantischer Zurschaustellung pianistischer Virtuosität. Motorisch vorwärts treibende Figurationen führen zum resonanzenreich verklingenden Schluss.
Eine Vorliebe für spezielle Klang- und Resonanzeffekte verrät eines der aktuellen Hauptwerke von Zinsstag: Seul, l’écho (2012) für Mezzosopran (oder Alt) und Kammerensemble, das am 1. Juni 2013 vom Athelas Ensemble in Kopenhagen uraufgeführt wird. Die Partitur schreibt dem Schlagzeuger unter anderem vor, auf speziellen Resonatoren zu spielen, die auf Anfrage vom Komponisten für Aufführungen bereit gestellt werden. Vertont wird in Seul, l’écho ein eigens für dieses Werk geschriebener Text des 1951 geborenen französischen Dichters Joël-Claude Meffre. Auch sein Gedicht kreist um das Thema des Erklingens von Stimmen und Echos, aus der Stille, aus der Ferne, aus der Erinnerung. Am Ende verdichtet sich das musikalische Geschehen zu einem auskomponierten „Tohuwabohu“, um abschließend die bange Frage in den Raum zu stellen: „Wird von alledem ein Echo bleiben?“
Die in Seul, l’écho beschworene existentielle Dimension von Musik prägt auch die zweite im Jahre 2012 vollendete Komposition, mit der Zinsstag sich auch heute gewichtigen Inhalten und Ausdrucksformen zuwendet: Eskatos für Vokalensemble, vier Blechbläser und zwei Schlagzeuger, komponiert für das Ensemble Musicatreize und dessen künstlerischen Leiter Roland Hayrabedian. In diesem Werk vertont Zinsstag Ausschnitte aus der Apokalypse des Johannes und verbindet diese mit eigenen, teils von Günther Anders inspirierten Texten über das fatale, da ausbeuterische Verhältnis der Menschheit zu ihrem Heimatplaneten Erde. Das etwa 25-minütige Eskatos, von dem auch eine eigenständige deutsche Fassung vorliegt, wird seine Uraufführung 2014 in Marseille erleben.
Text: Torsten Möller