Zur Musik von Reinhard Febel
Text von Rainer Nonnenmann (2003)
Reinhard Febel bewegt sich zwischen Generationen, Kulturen, Stilen und Sparten. Während die Vertreter der „Neuen Einfachheit” in den 1970er Jahren dezidierte Struktur- und Materialkonzepte ablehnten, weil diese im Serialismus übermäßig strapaziert worden waren, strebte Febel nach einer Vereinigung von historisch-kritischer Materialreflexion und konstruktiver Strukturbildung mit unmittelbar erleb- und nachvollziehbaren Klang- und Formverläufen. Das gilt für seine frühen Werke wie das
Sextett (1977) ebenso wie für spätere, etwa die
Fünf Stücke für Streichquartett (2000). Im Unterschied zu seinen Altersgenossen, die Tonalität als geschlossenes System oder neo-romantischen Stil wiederzubeleben versuchten und sich dabei an Schubert, Mahler oder Berg orientierten, entdeckte Febel das dialektische Strukturdenken Helmut Lachenmanns für sich und war dementsprechend darum bemüht, neue Klangstrukturen gezielt in Reibung mit bereits bestehenden Traditionen, Stilen und Formen zu entwickeln. Zudem begriff er Tonalität stets nur als neutrales Material, das neben anderen Techniken und Materialien aus dem Fundus der älteren und jüngeren Musikgeschichte gleichberechtigt verfügbar sein sollte.
Anstelle der rigorosen Atonalität des Serialismus und des restaurativen Komponierens „in” Tonalität propagierte er ein postmodernes Komponieren „mit” Tonalität, das die avantgardistische Fortschrittsideologie überwindet, ohne in traditionelle Musiksprachlichkeit zurückzufallen. Statt des exklusiven Materialbegriffs der Nachkriegsavantgarde plädierte er in zahlreichen Essays für ein inklusives Komponieren. Indem er scheinbar objektiv notwendige Tendenzen des Materials sowie geschichtsphilosophische Legitimationen des vermeintlich irreversiblen Umschlags von der Tonalität zur Atonalität zu Beginn des 20. Jahrhunderts als willkürlich ablehnte, sprach er sich zugleich für eine universelle Öffnung des avantgardistisch verengten Geschichts- und Materialbegriffs aus.
Die pluralistische Denkungsart schlug sich in etlichen seiner Stücke nieder. Den Verlauf von
Charivari (1979) gestaltete er zum Beispiel als zeitgeraffte Projektion der realen Musikgeschichte von Dufays Vokalpolyphonie über barocke Fugentechnik, klassischen Quartettsatz, spätromantische Klangfülle und Anton Weberns punktuellen Stil bis hin zu Luciano Berio und György Ligetis Klangflächenkomponieren. Seine Kammeroper
Euridice (1982/83) bezog er in unterschiedlichen Annäherungs- und Entfernungsgraden auf das gleichnamige Schlüsselwerk der Gattung Oper von Jacopo Peri aus dem Jahr 1600. In den
Variationen für Orchester (1980) entfaltete er eine tonale Liedvorlage und im
Konzert für Schlagzeug (1981) verfremdete er Quintfallsequenzen durch übertriebene Beschleunigung so weit, dass aus dem durchweg tonalen Material atonale Strukturen folgten. In der
Étude d‘exécution transcendante für vierzehn Instrumente (1979) thematisierte er das Aufkommen und Verschwinden von Tonalität bzw. Atonalität durch einen bogenförmig um einen langen H-Dur-Akkord kreisenden Klangverlauf, in
Innere Stimmen für Klavier (1982) zitierte er Robert Schumanns Humoreske op. 20, und im dritten der
Drei Lieder für Sängerin, Sprecherin, Klavier und Tonband (1982) montierte er aus kurzen Zitaten verschiedener Werken von Johann Sebastian Bach, Wolfgang Amadeus Mozart und Johannes Brahms eine von h-Moll durch den gesamten Quintenzirkel wieder nach h-Moll zurücklaufende Quintfallsequenz.
Auch mit der amerikanischen Minimal Music hat Febels Musik wenig gemein, obwohl
Polyphonie für Violine solo (1980) und das
Streichquartett (1981/82) durch die unabhängige Behandlung von Griff- und Bogenhand über weite Strecken aus rhythmisch-melodischen Patterns bestehen. In der
Sinfonie (1985/86) entstehen pointillistisch flirrende Klangkontinuen durch punktuelles Aufsplittern tonaler Akkorde auf den gesamten Orchesterapparat. Im Gegensatz zum Minimalismus zielte Febel jedoch stets auf spontanen Einfallsreichtum, auf Emotionalität und die Darstellung außermusikalischer, zumal episch-dramatischer Gehalte. Aus diesem Grund suchte er neue Arten des Umgangs mit Sprache und Text. In
Das Unendliche (1984) handhabte er zwei Singstimmen quasi instrumental, das Orchester dagegen sprach analog mit entsprechend konsonantischen bzw. vokalischen Artikulationsweisen. Ähnlich verfuhr er in
Joker für Sopran und fünf Instrumente (1986) und
Auf der Galerie für elf Streicher (1985), wo die formalen, syntaktischen und semantischen Strukturen des gleichnamigen Textes von Franz Kafka wie als „Tonspur zu einem Film” in einen quasi erzählenden Klangverlauf transponiert sind. Statt Sprache zu musikalisieren soll Musik versprachlicht werden. Auch in weiteren Instrumental- und Vokalwerken erweist sich Febel als ausgesprochener Musikdramatiker, der den programmatischen Rahmen seiner Stücke gelegentlich durch Angaben zur Raum-, Bewegungs- und Lichtregie ergänzt, etwa in
Winterreise (1992),
Die vier Zeiten (1993),
Capitaine Nemo (1999) und
Wolkenstein (2002).
Schon früh zielte Febel auf musikdramatische Konzeptionen. Bisher hat er sieben Opern vollendet. Während er sich in seinen ersten Bühnenwerken
Euridice (1983),
David und Gollert (1987) und
Nacht mit Gästen (1987/88) noch weitgehend an einer epischdramatischen Opernästhetik orientierte, arbeitete er in
Sekunden und Jahre des Caspar Hauser (1991/92) und
Morels Erfindung (1993/94) mit verschiedenen Realitäts-, Zeit- und Klangebenen und in
Beauty (1995/96) mit Verfahren epischer Verfremdung und Distanzierung. Für die „Science-Fiction-Oper”
Lichtung (2000) entwickelte er in Anlehnung an die statische Filmsprache Andreij Tarkowskis eine unkonventionelle Dramaturgie irreal getrennter Schichten von Musik, Gesang, Text und Handlung. Gegenwärtig in Arbeit befinden sich an den Grenzen von Theater, Oper und Musical die „Kinderoper”
Herr Daunander und Glotze (2002/03) sowie die Boxoper
Die sieben Feen (2003/04).
Anfang der 1990er Jahre machte Febel Bekanntschaft mit außereuropäischer Musik und besann sich auf rhythmische Strukturen und deren körperliche Wirkungen. Seine musikalischen Erfahrungen auf Reisen durch Afrika und Südamerika fanden direkten kompositorischen Niederschlag im Finale der
Vier Stücke für Violine und Orchester (1994) sowie einigen Stücken der
Piano Books I-III (1986-94) und dem
Percussion Book (1994/95). In "Analogie zum Komponieren" „mit” Tonalität komponierte er jetzt nicht mehr „in”, sondern „mit” Rhythmus, Metrum, Tempo und Tonhöhe. Statt die einzelnen Parameter für eine gesamte Komposition zu fixieren, unterzog er sie in den
Sonatas 1-7 für Klavier (2000-02) und
Maelstrom für zwei Klaviere (2002) dynamischen Prozessen. Durch kontinuierliche Glissando-, Zeit- und Tempoverläufe werden selbst starre Strukturen und Wiederholungsmuster – wie die Vorlage zur
Fantasie über ein Thema von Franz Schubert für Orchester (1997) – ständig in Bewegung gehalten und verändert. Während im ersten der beiden Stücke
Sculpture / Motion Picture für neunzehn Streicher (1998) vereinzelte Töne analog der sukzessiven Betrachtung einer Skulptur von allen Seiten beschleunigt und auf den Zeitverlauf projiziert werden, fügen sich im zweiten Stück zunehmend beschleunigte Einzelbewegungen zu einem polyphonen Gesamtbild. Weiter entwickelt Febel diesen Ansatz gegenwärtig in
Sphinxes für Orchester (2003).