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Pagh-Paan, Younghi

Younghi Pagh-Paan (*1945 Cheongju, Südkorea) ist eine der wichtigsten Komponistinnen ihrer Generation; Sie erhielt als erste Frau einen Kompositionsauftrag für ein Orchesterwerk der Donaueschinger Musiktage (1980) und wurde als erste Frau als Professorin für Komposition an eine deutsche Hochschule berufen (Bremen, 1994). Als Komponistin und Lehrerin prägt sie mehrere Generationen von Komponistinnen und Komponisten.

Pagh-Paan studierte zunächst von 1965 bis 1971 an der Seoul National University, bevor sie ein DAAD-Stipendium 1974 nach Deutschland führte. Hier setzte sie ihr Studium an der Hochschule für Musik Freiburg bei Klaus Huber (Komposition), Brian Ferneyhough (Analyse), Peter Förtig (Musiktheorie) und Edith Picht-Axenfeld (Klavier) bis zum Abschluss 1979 fort.

Die Spannung zwischen dem eigenen und dem Fremden hat stark ihr künstlerisches Denken geprägt; so tragen eine Vielzahl ihrer Werke koreanische Titel und suchen nach einem Ausgleich dieser Pole. Eine weitere wichtige Säule ihres Schaffens ist die Auseinandersetzung mit politischen Themen wie Flucht, Vertreibung, Heimatlosigkeit, Gewalt und Widerstand.

In den Jahren 1980/81 war sie Stipendiatin der Heinrich-Strobel-Stiftung des Südwestfunks, 1985 der Kunststiftung Baden-Württemberg. Für ihr Schaffen erhielt sie zahlreiche internationale Auszeichnungen: den Heidelberger Künstlerinnenpreis (1995), den Lifetime Achievement Award der Seoul National University (2006), den Order of Civil Merit of the Republic of Korea (2007), den 15. KBS Global Korean Award (2009), die Senatsmedaille für Kunst und Wissenschaft der Freien Hansestadt Bremen (2011), den Paiknam Prize (Seoul, 2013), den Preis der Europäischen Kirchenmusik und 2020 den Großen Kunstpreis der Akademie der Künste Berlin, deren Mitglied sie seit 2009 ist.

Nach Gastprofessuren an den Musikhochschulen in Graz (1991) und Karlsruhe (1992/93) wurde Younghi Pagh-Paan 1994 als Professorin für Komposition an die Hochschule für Künste in Bremen berufen. Dort gründete sie das Atelier Neue Musik und lehrte bis zu ihrer Emeritierung 2011.

Photo: Si-Chan Park

Frei atmen: Zum 75. Geburtstag von Younghi Pagh-Paan

Ein Porträt von Volker Hagedorn

Gerade ist sie umgezogen, hat ihr Arbeitszimmer verlegt vom zweiten in den ersten Stock des Bremer Hauses, in dem sie lebt, seit drei Jahren allein. Nun kann Younghi Pagh-Paan vom hölzernen Tischpult, auf dem sie Noten schreibt, direkt auf den Balkon treten und stellt sich dann gern vor, sie sei in Panicale in Umbrien, dort, wo ihr Lebensgefährte Klaus Huber mit ihr seinen letzten Sommer verbrachte, ehe er in seinem 93. Lebensjahr starb. Die beiden hatten vieles gemeinsam, nicht nur den Geburtstag am 30. November, auch den Respekt voreinander, vor der Arbeit des anderen. „Er dominierte mich nie“, sagt sie, „sonst wäre ich weggegangen.“ So aber konnte sie nun sogar sein Zimmer zu dem ihren machen, im Bewusstsein der Freiheit, die für sie so wichtig ist.

Das ist keine einfache Freiheit, wie man in ihrer Musik hört, kein anything goes oder „Ich mache, was ich will“. Eher macht Younghi Pagh-Paan, was die Musik will. „Die werdende Musik ist ein so eifersüchtiges Lebewesen, dass sie mich nicht einmal als Mensch akzeptiert. Ich bin ihr dann total untertan. Sie frisst mich. Aber ich gebe mich gern. Und daher kann ich nicht den Haushalt machen“, erklärte sie lachend, als ich sie vor fünf Jahren interviewte. Schon ihr Vater hat Younghi vor der Küchenarbeit bewahrt, unüblich für seine Generation, erst recht im Korea der 50er Jahre. Das siebte von acht Kindern, „die Schwester mit dem Notenpapier“, wurde ernst genommen mit ihrer Liebe zur Musik.

Diese Liebe wurde auch gebraucht. Der Ingenieur und seine Frau hatten im Krieg der beiden Koreas ihr drittes Kind verloren, den siebzehnjährigen Sohn, und darum sang die Tochter für den Vater, „dass er ein bisschen Freude hat. Das war kein Lalala. Er hat so getrauert und jeden Tag getrunken, und dann war die Leber kaputt.“  Er wurde nur 47 Jahre alt. Da war sie elf, sie hatte „den einzigen Zuhörer verloren.“ Sie hat nie wieder gesungen - und umso mehr für Stimmen komponiert, zuletzt, in diesem Jahr, Mein Herz I für Sopran und Viola. Es ist, zu Worten von H. C. Artmann, ein Werk von großer Spannung und Klarheit, besser gesagt clarté, denn wie in den mélodies von Debussy werden keine Bedeutungen herbeizitiert. Die Worte wandeln sich in eine lichte, klingende Realität.

Sie bergen mit dem in die deutsche Lyrik eingebetteten „ne ma-um“ („mein Herz“) auch die koreanische Identität, die schon für die Selbstfindung als Komponistin entscheidend war nach dem „Kulturschock“, den die 28-Jährige in Freiburg erlebte. Zur europäischen Musik hatte das Mädchen in Korea am Radio gefunden, über die romantischen Werke, die die Amerikaner dem Rundfunk gaben. Younghi notierte sich die Melodien, und am einzigen Klavier in der Provinzstadt Cheongju durfte sie spielen, in der Schule, frühmorgens und inoffiziell. Später studierte sie Musik in Seoul und bekam ein Stipendium.

Aber in Freiburg nahm ihr das hohe Niveau der jüngeren Kommilitonen um Wolfgang Rihm buchstäblich den Atem: „Ich bin hingefallen, weil ich keine Luft mehr bekam.“ Im Komponieren fand sie den Atem wieder. Und den „koreanischen Fluss“, zu dem 1975 das Stück Man-nam für Klarinette und Streichtrio führt, der Fluss des Denkens, der Fluss in Cheongju, an dessen Ufermauern zweimal im Monat Markt war, mit Tieren und Gewürzen und Spielleuten. Deren südkoreanische Bauernmusik verband sie bald mit Techniken westlicher Moderne, und so lauschte man im Donaueschingen des Jahres 1980 staunend dem Orchesterwerk Sori - nicht ahnend, dass die aleatorische Klangexplosion mittendrin ein Reflex auf das Massaker war, mit dem die Diktatur Südkoreas im selben Jahr die Demokratiebewegung stoppte.

Das ist vierzig Jahre her, seitdem hat Younghi Pagh-Paan fast neunzig weitere Werke geschaffen. Unmöglich, an dieser Stelle diesen Kosmos auch nur grob zu ermessen, dessen Quellen und Sujets von der Antike bis zum Katholizismus führen - zu dem sich die Komponistin bekennt -, vom chinesischen Dao bis zur Mysterikerin Simone Weil, von der das (bislang) einzige Streichquartett der Komponistin seinen Titel empfing: Horizont auf hoher See, 2017 vom Arditti Quartet uraufgeführt. Mitten in der höchst abendländischen „Königsdisziplin“ des Metiers erlebt man eine neue Freiheit, ein Bewegtsein, vermittelt in so komplexen wie durchsichtigen Strukturen. Nichts darin ist beklemmend, nirgends will die hochbewusste Balance etwas „auf den Punkt“ bringen. Vertrauen ist besser als Kontrolle, scheint die Musik zu sagen. Sie atmet frei und ohne Maske, und so ist sie jetzt auch eine Erinnerung - an die Zukunft.